Sault – Mont Ventuckx, Moh Vähntuh, Mo One-Two? Wie spricht man korrekt ihn an, den Mont Ventoux? Und wie nähert man sich dem „Giganten der Provence“, diesem 1912 Meter hohen Monument der Tour de France? Drei Wege stehen fürs Rennrad zur Auswahl, und der Anstieg der Tour 2025 gilt als der schwierigste: Von Bédoin aus geht es 21 Kilometer den Gipfel hinauf, mit durchschnittlich 7,5 Prozent Steigung und null Prozent ausruhen. Es geht einfach nur stur und steil bergauf, zunächst durch den Wald, dann über die unglaubliche Kalksteinwüste, an deren höchstem Punkt die Anlage des Observatoriums in den Himmel ragt. Wie ein mahnender Zeigefinger.
Zu Beginn ist die
Welt noch schön
Der König der Provence empfängt mich unerwartet freundlich. Ich habe in Sault Quartier übernachtet. Nicht wegen der leichtesten Auffahrt, sondern wegen der schönsten Anfahrt. Die schlängelt sich über zehn Kilometer entlang der Gorges de la Nesque, einem schwindelerregenden und atemraubenden Canyon. Es ist eine rauschende Fahrt, eine, die einem ein breites Grinsen ins Gesicht zaubert. Die Sonne scheint, die Temperaturen sind gemäßigt, der Wind ist sanft – die Welt ist schön.
In einem Dörfchen trinke ich einen Espresso. Dann rolle ich mich auf den letzten acht Kilometern vorm Berg ein. Zwischen Lavendelfeldern hindurch fahre ich Richtung Bédoin, im gemächlichen Auf und Ab, immer den Mont Ventoux vor Augen. Schließlich füllt er das Gesichtsfeld aus, man sieht den Mont nicht vor lauter Wald. Ich fahre zu seinen Füßen. Nun geht’s los, rechts rauf, mit Herzklopfen: Wir besuchen eine Legende. Einen Mythos. Zunächst mit moderater Steigung. Wie diese ersten fünf Kilometer einen täuschen können …
Eine Radler-Wallfahrt,
immer den Berg hinauf
Die Auffahrt zum Mont Ventoux ist ein Abenteuer für Fortgeschrittene. Und zugleich eine Wallfahrt. Zu Zeiten der Tour de France sind zahllose Pilger unterwegs. Immer wieder kommen einem Radfahrer entgegen, in rasender Fahrt. Immer wieder überholt man Fahrer. Oder wird überholt. Beim Restaurant Le Virage schraubt man sich durch eine Kehre. Danach wird es hart. Zehn Kilometer, und die Steigung fällt selten deutlich unter die zehn Prozent. Es ist schwierig, den Rhythmus zu finden. Zumal da wenige Kurven sind, die man weit ausfahren kann, um sich zwei, drei Sekunden in flacherem Gelände zu sichern. Es geht einfach stur und steil bergauf, auf engen Straßen, die man gleichwohl meist über Hunderte Meter einsehen kann: Hunderte Meter Ahnung dessen, was einen an Strapazen erwartet.
Ich kann nicht dauernd aus dem Sattel gehen, ich kann nicht dauernd sitzen. Überraschung nach drei, vier Kilometern im Wald: Der Rücken tut mehr weh als die Beine. Ich wechsle immer wieder die Haltung und schwanke auf meinem Carbon-Renner die Straße hinauf. Am besten schaut man nicht nach jemandem, den man einholen könnte. Am besten überhört man das Schnaufen des Fahrers, der einen gleich einholen wird.
Ich strample dumpf durch den Wald, rechne nicht nach Höhenmetern, sondern richte mich nach der Zeit: Nach einer Stunde oder so müsste Chalet Reynard erreicht sein, eine Gaststätte, die den Übergang vom Wald zur Wüste markiert. Auf 1200 Metern Höhe schnurren die schmalen Reifen des Rennrads über neuen, glatten Asphalt. Für ein paar Hundert Meter fällt das Fahren leichter. Ein Stück Erholung, das Einzige auf diesen zermürbenden ersten zwei Dritteln. Der Radcomputer zeigt gelb, orange, rot die Steigungsprozente an. Grün wäre die Hoffnung. Ich warte vergebens.
Endlich lasse ich den Wald hinter mir. Am Rande einer flachen Kurve steht das Chalet Reynard, flach, ungeachtet des großen Namens, ein unansehnlicher flacher Zweckbau. Der große Parkplatz ist 48 Stunden vor der Ankunft der Tour de France bereits von zwei, drei Dutzend Wohnmobilen voll gestellt. Vor dem Chalet sitzen und stehen zahllose Schaulustige und erschöpfte Radfahrer. Ich halte mich nicht auf und kurble weiter. Ich habe eine Audienz beim Riesen der Provence. Würde die Sonne scheinen, würde die Kalksteinwüste mich blenden. Sie blinzelt nur vereinzelt durch die Wolken.
Der harte Kampf in
der Mondlandschaft
Ich kämpfe mich durch eine Mondlandschaft. Die Straße führt stetig bergan, verschwindet regelmäßig jeden Kilometer hinter einer Geländefalte und taucht danach zuverlässig wieder auf. Es ist der Rhythmus dieses harten Schlussanstiegs: Rechtskurve, Linkskurve – Rampe. Wie ein Trugbild schimmert in der Entfernung das Observatorium. Rampe für Rampe arbeite ich mich heran. Ich habe Glück. Es ist nicht zu heiß. Es ist nicht besonders windig, im Gegensatz zu den meisten sonstigen Tagen. Es regnet nicht.
Eineinhalb Kilometer vor dem Gipfel passiere ich das Denkmal für Tom Simpson, der am 13. Juli 1967 an dieser Stelle an einer Mischung aus Hitze, Erschöpfung und Amphetaminen starb. Ich lege eine Gedenkminute ein, genauer: eine Pause, die ich dringend brauche. Danach geht es schnell. Auf einmal ragt der Turm des Observatoriums über mir auf, an die letzten paar Hundert richtig steilen Meter kann ich mich gar nicht erinnern. Die letzte Kurve rechts hinauf krieche ich nicht mehr hinauf, ich fliege fast.
Volksfest am Gipfel –
und ein E-Bike-Fahrer
Dann die finale, die berühmte Rampe – und dann stehe ich am Gipfel. Als einer von vielen. Deutsche, Franzosen, Belgier, Niederländer, Chinesen. Auf teuren Bikes, auf antiquierten Drahteseln. Es ist ein bisschen Volksfest. Ein freundlicher Mensch nimmt mir das Smartphone ab und fotografiert mich vor dem Gipfelschild, dessen Schriftzug vor lauter Aufklebern kaum zu sehen ist. Danach nehme ich anderen Fahrern ihr Smartphone ab und fotografiere sie.
Ich unterhalte mich sogar mit einem E-Bike-Fahrer. Till aus Koblenz. Weil sich Till so auf die Tour de France freut und sich unbedingt den Zirkus auf dem Gipfel davor nochmal anschauen will. Das verstehe ich vollauf. An diesem Gipfel ist sogar ein E-Bike-Fahrer einer von uns. An die Anstrengung kann ich mich schon wenige Minuten danach nicht mehr wirklich erinnern. Mein Mitleid mit den armen Radprofis, die diesen Anstieg übermorgen bewältigen müssen, schwindet. Es weicht der reinen Vorfreude auf diese legendäre Bergankunft. Und auf die rauschende Abfahrt.