Angeblicher Übergriff im Aufzug

von Redaktion

Möglicher sexueller Übergriff am Rosenheimer Bahnhof: Weil ein 30-jähriger Mann eine Frau (35) im Intimbereich berührt haben soll, musste er sich nun vor Gericht verantworten. Die Wahrheit herauszufinden, gestaltete sich aber schwierig. Was sich abgespielt haben soll – und wieso es kein Urteil gab.

Rosenheim – Die Anklage war klar: Ein 30-jähriger Mann hatte am 1. März dieses Jahres auf einem Bahnsteig im Rosenheimer Bahnhof eine 35-jährige Frau mit einer geistigen Beeinträchtigung angesprochen. Im Verlauf des Gespräches überredet er sie, mit ihm durch die Unterführung zur Klepperstraße zu gehen. Im Lift habe er versucht, ihr an die Wäsche zu gehen und habe ihr in die Unterhose an die Genitalien gegriffen. Erst als sie ihm deutlich klarmachte, dass sie das nicht wolle, habe er abgelassen und sich entfernt. Da die Tat aber aufflog und nach Paragraf 177 Strafgesetzbuch strafbar ist, landete der Mann vor Gericht. Die mögliche Strafe: bis zu fünf Jahren Gefängnis.

Angeklagter bricht
in Tränen aus

Das Problem, mit dem sich das Gericht konfrontiert sah: Der Täter ist selbst geistig beeinträchtigt und begriff offensichtlich gar nicht, warum er vor Gericht stand. Seine Dolmetscherin war gezwungen ihm alle Übersetzungen mehrmals vorzutragen, bis er diese auch wirklich verstand. Mehrfach brach er dabei in Tränen aus und saß zitternd auf seinem Stuhl.

Der 30-Jährige selbst berichtete stockend, dass er die Frau bereits vorher kennengelernt habe und diese am Bahnsteig im zweiten Anlauf wieder erkannte. Man habe sich begrüßt und gegenseitig umarmt. Beide seien glücklich gewesen und er könne nicht verstehen, was man ihm hier zum Vorwurf mache. Die Frau sei zunächst alleine gewesen und später sei sie dann zu ihrer Gruppe zurückgekehrt. Zur Klepperstraße seien die beiden nur gegangen, weil der 30-Jährige ihr die Schule habe zeigen wollen, die er besuchte. Ja, man habe sich gegenseitig auf die Wange geküsst, sagte er. Er habe sie auch auf den Mund geküsst. An einen sexuellen Übergriff konnte er sich nicht erinnern.

Die Verteidigung berichtete von einer schweren Meningitis – Hirnhautentzündung –, die der Angeklagte bereits als Kleinkind erlitten und die im Laufe der Zeit ständig zu heftigen Krampfanfällen geführt habe. Er habe wegen seiner geistigen Beeinträchtigung auch lediglich zwei Jahre die Schule besucht, kenne zwar das Alphabet, müsse aber insgesamt als Analphabet gelten. Auch seine mathematischen Fähigkeiten seien eingeschränkt. Sein Gedächtnis sei ebenfalls beeinträchtigt davon.

Nur vage
Erinnerungen

In einem Rechtsgespräch beantragte deshalb dessen Verteidigung die Einstellung des Verfahrens. Dem wollte die Staatsanwaltschaft aber nicht zustimmen. Schließlich wurde an der Innenseite der Unterhose der Frau DNA gefunden, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom Angeklagten stammt. Während einer Verhandlungspause wurde der Angeklagte eingehend vom psychiatrischen Gutachter Dr. Franz Xaver Obermaier befragt und untersucht.

Die Frau konnte allerdings auch nicht ausführlich über den Hergang des Geschehens vom 1. März berichten. Begleitet von ihren Eltern und unter der Betreuung einer Psychologin ließ sie nur Umrisse ihrer Erinnerung erkennen. Unklar blieb, welche ihrer Aussagen echte Erinnerung und was womöglich durch bestimmte Fragestellungen beeinflusst wurde. Die Videoaufzeichnungen vom Bahnhof zeigten lediglich Gesprächssituationen, dass der Angeklagte seinen Arm um die Schulter der Frau legte und dass er sie an der Hand hielt.

Videoaufnahmen
liefern keine Beweise

Ein Zwang durch Zerren oder Ziehen, wie vom Staatsanwalt unterstellt, war hingegen nicht erkennbar. Auch der 36-jährige Bruder des Angeklagten wurde zu einer detaillierten Beschreibung des Krankheitsbildes des Angeklagten befragt.

Im Anschluss daran erklärte der Gutachter Dr. Obermeier, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bei dem Angeklagten um eine Form der Epilepsie handelt, die bereits im frühkindlichen Alter dessen Gehirn nachhaltig geschädigt habe. Es sei auszuschließen, dass der Angeklagte habe erkennen können, dass es sich bei der von ihm angesprochenen Frau ebenfalls um einen geistig beeinträchtigten Menschen gehandelt habe.

Vielmehr habe er sich damals wohl tatsächlich zu der Frau hingezogen gefühlt. Die fehlende, sofortige Abwehr – wie er sie ansonsten wohl öfter erlebe – habe er offensichtlich als gegenseitige Zuneigung fehlinterpretiert. Er sei ja – abgesehen von dem sexuellen Übergriff – auch durchaus geständig.

Angeklagter
nicht voll schuldfähig

Ganz fraglos, so der Gutachter, sei hier der Paragraf 21 der Strafprozessordnung anzuwenden, nach dem eine deutliche Minderung der Schuldfähigkeit zuträfe. Eine Wiederholungsgefahr sah Obermeier nicht. Immerhin sei der Proband bislang völlig unbescholten gewesen. Es sei auch höchst unwahrscheinlich, dass es sich erneut eine solche Konstellation des Aufeinandertreffens ergebe.

Die Polizisten, welche die Strafanzeige aufnahmen, wussten zu berichten, dass es auch damals höchst schwierig war, konkrete Situationsbeschreibungen des Tatopfers zu erhalten. „Auf eine offene Fragestellung war keinerlei Information zu bekommen. Man musste ausschließlich geschlossene, direkte Fragestellungen verwenden“, so die Aussage der Beamten. Dennoch seien nach seiner Meinung bei der Vernehmung suggestive Elemente ausgeschlossen gewesen, erklärte ein Polizist vor Gericht.

Nach der Aussage musste die Verhandlung aufgrund der fortgeschrittenen Tageszeit unterbrochen werden. Auch weitere Zeugen waren notwendig geworden. So braucht es einen neuen Termin, um den Vorfall komplett aufzuklären.

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