Rosenheim – Nora M. hat drei Kinder und einen gewalttätigen Mann. Sie will und muss sich von ihm trennen, steht mit diesem Vorhaben aber vor einer Wand: Ihre Berufsausbildung hat sie nicht abgeschlossen und ihr Deutsch ist noch recht mangelhaft. Es besteht keine wirkliche Chance, einen Arbeitsplatz zu finden, ganz abgesehen von der zu bewältigenden Bürokratie, der sie sich wie einem undurchdringlichen Dickicht gegenübersieht.
Ausweglos? Nein, Nora M. musste in dieser Situation nicht untergehen, ihr konnte von der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe geholfen werden, wobei das Schlüsselwort das Konzept der Sozialraumorientierung war.
20 Jahre erfolgreiche
Arbeit in Rosenheim
„Sozialraumorientierung? Nie gehört. Was soll das denn jetzt wieder sein?“, so geht es wahrscheinlich vielen bei diesem Begriff. Und selbst die, denen er schon einmal untergekommen ist, haben in der Regel nur eine sehr vage Vorstellung. Dabei arbeitet man in Rosenheim in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe schon seit gut 20 Jahren nach dem Sozialraumkonzept.
Höchst erfolgreich übrigens, die Zahl der Unterstützungsangebote stieg erheblich, während die Kosten in diesem Bereich – anders als in anderen Städten – nur maßvoll wuchsen: In Rosenheim sind für die höchst effektive Kinder-, Familien- und Jugendarbeit nur sechs Millionen Euro pro Jahr aufzuwenden. Läge man bei den Kosten pro Betreuungsfall im bundesweiten Durchschnitt, wären es 13 Millionen.
Der Caritasverband wollte nun den Begriff der Sozialraumorientierung einmal aus der Theorie herausholen und vorstellen, was er im echten Leben bedeutet. Sie machte ihn deshalb zum Thema eines „Sozialspaziergangs“ im Sozialraum Nord der Stadt. Dort ist der Caritasverband zusammen mit anderen freien Trägern, der Stadt, dem Kinderschutzbund und dem Kinderheim Schöne Aussicht Rosenheim einer der maßgeblichen Akteure.
„Sozialraumorientierung“ – darin steckt auch eine räumliche Definition, es ist vor allem aber eben ein Konzept. Ein Konzept, das, wie auf dem Sozialspaziergang deutlich wurde, ganz entscheidend auf einer Überzeugung beruht: Es kann bei Unterstützungsmaßnahmen, die wirklich wirkungsvoll, dabei aber auch gut finanzierbar sein sollen, nicht mehr darum gehen, den betroffenen Menschen Angebote aus einem festgelegten Maßnahmenkatalog überzustülpen. Früher war das so, in anderen Städten ist es das auch heute noch: Hilfsangebote sozusagen fertig aus der Schublade gezogen, die „Fälle“ und das, was wie angewendet werden sollte, in der Regel vorab fest definiert – mit ebenso fest damit verbundenen Kosten.
Das Rosenheimer Sozialraumkonzept verfolgt einen ganz anderen Weg: Hier geht es um wirklich maßgeschneiderte Unterstützung, der Blick geht vom betroffenen Menschen aus: Was will er für sich erreichen, wie kann man ihn dabei unterstützen und vor allem, was kann er selbst dazu beitragen. Denn sich selbst aktiv in den Unterstützungsprozess einbringen zu können, ist ganz wesentlich für das Selbstwertgefühl der Betroffenen. Und es macht die Hilfe auch nachhaltig, weil man als Betroffener dadurch erfährt, dass man durchaus selbst „handlungsmächtig“ ist und nicht passiv auf das warten muss, was andere mit einem machen, sei es nun positiv oder negativ.
Im Fall von Nora M. bestand die Hilfe zunächst darin, sie in einer Notfallwohnung unterzubringen, die vom Bürgerhaus Miteinander in der Lessingstraße betreut wird. Man half ihr auch, rechtliche Schritte gegen ihren Mann einzuleiten, die beispielsweise in ein Näherungsverbot mündeten. Weitere entscheidende Schritte aber unternahm Nora M. selbst: Sie fand engeren Kontakt zu einer anderen Mutter, die sie im Elterncafé – auch das ein Projekt des Sozialraums – kennengelernt hatte. Über diese neue Bekannte gelang es ihr, sich Schritt für Schritt ein soziales Netzwerk aufzubauen.
„Netzwerke aufbauen“ – das ist ein weiterer zentraler Begriff des Sozialraumkonzeptes. Und damit sind nicht nur individuelle Netzwerke gemeint, wie im Fall von Nora M., sondern auch die enge Zusammenarbeit aller Organisationen und Träger, die sich im jeweiligen Sozialraum um ein Thema – hier eben das der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe – kümmern. Auch hier gilt: Früher – und anderswo auch heute noch – waren und sind die verschiedenen Akteure Einzelkämpfer. Dabei bleibt es nicht aus, dass es Angebote doppelt gibt, die auch noch miteinander konkurrieren: schlecht auch für die Finanzen, denn die Kostenabrechnung erfolgte für jeden Akteur getrennt.
Im Sozialraumkonzept wird das anders gehandhabt. Vereinfacht gesagt, gibt es hier eine Art Budget für alle, aus dem dann jeweils die einzelnen und untereinander abgestimmten Maßnahmen finanziert werden. Wie gut das in der Praxis funktioniert, zeigen die bereits erwähnten, vergleichsweise geringen Kosten in den drei Rosenheimer Sozialräumen.
Wirkungsvoll und
zukunftsfähig
Für Christian Meixner, den Leiter des städtischen Jugendamtes, ist dabei aber eines besonders wichtig, wie er im Rahmen des Sozialspaziergangs betonte: „Das Entscheidende beim Sozialraumkonzept ist, dass die Hilfen effektiver wurden und jetzt dicht an den Bedürfnissen der Betroffenen liegen.“ Dass dabei Geld gespart werde, sei ein angenehmer Nebeneffekt, wenn auch ein nicht unwichtiger: Es stelle sicher, dass wirkungsvolle Jugendarbeit zukunftsfähig bleibe, auch in Zeiten schmaler werdender Kassen.
Von daher ist verständlich, dass sich der Stadtrat jüngst dazu entschloss, dieses höchst erfolgreiche Konzept der Sozialraumorientierung auch auf ein weiteres Themenfeld auszuweiten: das der Seniorenarbeit.