Rosenheim – Seit einigen Tagen ist der Herbst in der Region angekommen. In der Jahreszeit zieht es wieder besonders viele Menschen in die Berge. Doch die Alpen verändern sich. Das weiß auch Bergexperte und Buchautor Georg Bayerle. Vor wenigen Tagen hat er sein aktuelles Buch „Der Alpen-Appell: Warum die Berge nicht zum Funpark werden dürfen“ beim Bund Naturschutz Rosenheim vorgestellt. Davor nahm sich Bayerle die Zeit, um über die Zukunft der Alpen in Zeiten des Klimawandels, den Ausbau der Kampenwandbahn und den Beitrag jedes Einzelnen zu sprechen.
Warum braucht es eigentlich einen Weckruf? Der Klimawandel und die Erwärmung zeigen sich in den Bergen bereits jetzt immer extremer.
Leider hat sich die Uhr in den vergangenen Jahren wieder zurückgedreht. Obwohl sich die Probleme immer deutlicher zeigen: zu viel Verkehr, immer mehr Kapazitätserweiterungen von touristischen Anlagen, immer mehr Verbrauch von Natur und Ressourcen. So können wir einfach nicht weitermachen.
Der Klimawandel schreitet vor allem in den Bergen dramatisch schnell voran. Im Hochgebirge sieht man es ganz deutlich, aber auch in den Hausbergen vor Ort. Warum steigen die Durchschnittstemperaturen in den Alpen so rasant an?
In den Bergen ist alles durch dieses große Höhenprofil viel näher zusammengerückt. Am Meer oder im flachen Land gleichen sich die Unterschiede mehr aus. In den Alpen ist die Temperaturerhöhung längst über die 1,5-Grad-Marke hinausgewachsen. Gleichzeitig reagiert die alpine Landschaft stärker. Gletscherschmelze und große lokale Unwetterereignisse mit Sturzfluten, Muren, Schlammlawinen – fast alle Alpenorte sind von solchen Naturgefahren betroffen. Je mehr die Gletscher zurückgehen, desto mehr Hitze wird in den Gesteinsflächen gespeichert, das beschleunigt alles.
Das heißt?
Vor Kurzem haben österreichische Gletscherforscher die Prognosen radikal korrigiert. Während man früher davon ausgegangen ist, dass die letzten Gletscher im Jahr 2100 verschwinden, geht man jetzt davon aus, dass es 2050 praktisch keine Gletscher mehr in den Ostalpen geben wird.
Die Wetterbeobachtung in den hiesigen Alpen wurde auch von einem Rosenheimer Bergsteiger, Meteorologen und Pionier auf den Weg gebracht.
Josef Enzensberger aus Rosenheim ist vor 125 Jahren als der erste Wetterwart auf den Gipfel der Zugspitze gestiegen und hat dort den ganzen Winter ausgehalten. Das Spannende ist, dass wir dadurch auf der Zugspitze seither exakte Messungen haben – nach objektiven wissenschaftlichen Kriterien. Und diese Temperaturkurve ist eines der eindrücklichsten Beispiele, wenn man die vergangenen 20 bis 30 Jahre anschaut, wie im Prinzip wie bei einem Hockeyschläger die Temperaturentwicklung in die Höhe schießt. Und das sind diese physikalischen Fakten, die uns das Extremwetter vor Augen führt.
Aber offensichtlich werden Auswirkungen des Wandels für viele, wenn man Felsstürze sieht wie zuletzt in der Schweiz. Doch gibt es auch in den Chiemgauer Bergen oder in niedrigeren Lagen Beispiele, wo es auffällt, dass sich der Klimawandel jetzt immer mehr beschleunigt?
Es gibt vor allem zwei Faktoren. Das eine sind die extremen Unwetter, extreme Niederschläge, die zum Beispiel Muren auslösen wie 2021, als die Bobbahn am Königsee in Schönau zerstört wurde. Oder – was überall in den Alpentälern passiert –, dass die Wasserwirtschaftsämter die Bergbäche immer mehr verbauen und Schwellen reinbauen. In den nächsten zwei Wochen wird ein großer neuer Rechen für drei Millionen Euro am Ferchenbach oberhalb der Partnachklamm in Garmisch-Partenkirchen eingeweiht. Da wird gerade wahnsinnig viel investiert, um die kleinen Orte und die Flusstäler zu schützen.
Im Winter herrscht immer mehr Schneemangel. Dennoch startet schon im Oktober die Weltcupsaison der Skifahrer in Sölden. Und für den anderen Skibetrieb geht nichts mehr ohne Kunstschnee. Braucht es da nicht auch einen Appell?
Kälte und Schnee werden immer weniger, gleichzeitig wird die Pisten-Industrie immer mehr ausgebaut. Eine Skipiste ist ja heute nicht ein Wiesenhang, wo im Sommer die Rinder grasen und im Winter Ski gefahren wird. Das sind autobahnähnlich ausgebaute Trassen mit Leitungssystemen im Untergrund, damit die ganze Beschneiungsmaschinerie funktionieren kann. Das sind komplett veränderte Landschaftsteile. Gerade im Chiemgau haben wir da ein sehr schönes Beispiel, wie das anders laufen kann: das ist das Bergsteigerdorf Schleching. 1969 noch Austragungsort der deutschen Skimeisterschaften. Dann hat man sich aber frühzeitig entschlossen, weil man die Entwicklung gesehen hat, diese ganze Gegend um den Geigelstein nicht weiter auszubauen, sondern im Gegenteil ein Naturschutzgebiet draus zu machen und auch den Wintertourismus umzustellen. Und das sind so Orte, die vorangehen und zeigen, dass es durchaus Alternativen gibt.
Aktuell ist die Kampenwandbahn ein Dorn im Auge des Bund Naturschutz. Sie soll ausgebaut werden. Es wurde sogar geklagt.
Wenn sich alle, die vor Ort leben, die Situation anschauen, gibt es schon jetzt eine hohe touristische und eine große Verkehrsbelastung. Dann stellt man sich die Frage: Was tut uns gut, was brauchen wir an touristischer Infrastruktur? Ich glaube, da müsste so ein Prozess schon dazu führen, zu sagen: Wenn überhaupt so ein Ausbauprojekt, dann so, dass die Natur nicht weiter geschädigt wird. Und wichtig wäre auch, dass es an ein nachhaltiges Verkehrskonzept angeschlossen wird, das nicht noch mehr Autoverkehr produziert, sondern dass auch tatsächlich die öffentlichen Verkehrsmittel zum Zuge kommen. Das müsste dann ein ganzheitliches Projekt werden. Ich kann ja auch durchaus positive wirtschaftliche Effekte aus sanftem Tourismus ziehen, aus der Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs. Das sind auch alles wirtschaftliche Faktoren.
Inwiefern sind die Bergsteigerdörfer Schleching, Sachrang und Ramsau Beispiele, wie es auch gut funktionieren könnte?
Wenn man die regionale Entwicklung betrachtet, schaffen es die Bergsteigerdörfer, dass Solidarität entsteht unter den verschiedenen Akteuren, die in diesen Bergsteigerdörfern tätig sind. Sie bringen Landwirte zusammen mit Naturschützern an den Tisch, um gemeinsame Projekte zu entwickeln. Sie stärken regionale Traditionen und da geschieht auch viel mit dem, was in der Region gemacht wird. Kreuth hat diese wunderbare Sennerei Tegernseer Land, ein Aushängeschild. Schleching hat mehrere Sportgeschäfte, die Leben auch ohne einen Winter-Alpin-Skitourismus in die Region bringen, und nicht zuletzt die unverbrauchte Natur. Der Trend ist eindeutig.
Was kann jeder Einzelne tun? Abgesehen davon, dass man den Urlaub in einem Bergsteigerdorf verbringen könnte.
Klar, die Bergsteigerdörfer erstrecken sich über den ganzen Alpenraum. Aber man kann auch schauen: Wie sieht meine Ernährung aus? Wo kommen meine Lebensmittel her? Stärke ich damit die regionale Wirtschaft? In welches Hotel gehe ich, was hat der Ort für ein Tourismuskonzept? Wie geht man dort mit den Ressourcen um, ist das energieintensiv oder geht es auch eine Nummer kleiner? Kann ich den ÖPNV benutzen? Man kann auch länger am Stück bleiben und dadurch die Orte besser kennenlernen. Man bekommt ganz viel davon, wenn man sich an solchen Kriterien orientiert. Keiner ist aufgerufen, von heute auf morgen komplett seinen ganzen Konsum umzustellen. Aber wenn jeder mal anfängt, was zu machen und überhaupt über seinen eigenen Konsum ein bisschen nachzudenken, dann geht schon ganz viel.
Zum Schluss: Noch ein Tipp für die Wandersaison im Herbst?
Kein Geheimtipp, aber immer wieder schön: durchs Priental ins Bergsteigerdorf Sachrang, rauf über die Priener Hütte auf den Geigelstein und über die Rossalmen wieder runter. Falls es mit den Öffis nicht gut klappt, kann man das als Zweitagestour mit Übernachtung auf der Priener Hütte machen.
Interview: Tom Fleckenstein