Rosenheim – Die Besucher der Titanic-Ausstellung im Lokschuppen staunten nicht schlecht: Zwischen Schiffsmodellen, originalen Spielkarten und schweren Koffern aus der Zeit der Jahrhundertwende stand ein gedeckter Tisch. Vier Spieler saßen dort und wirkten, als wären sie aus einer vergangenen Epoche. Ein Herr im Frack, Damen mit Stirnband und langen Perlenketten – alle gekleidet im Stil der 1910er-Jahre. Vor ihnen lagen Karten oder sie waren in der Hand aufgefächert. Die Blicke der Spieler waren konzentriert, denn sie spielten Bridge.
Gemeinschaft
und Strategie
Der Rahmen war bewusst gewählt: Vor Kurzem fand der deutschlandweite Bridge-Aktionstag statt. Unter dem Motto „Erlebe die Faszination Bridge“ luden Vereine von Hamburg bis Rosenheim zu Schnupperrunden und Infoveranstaltungen ein. Die Rosenheimer hatten sich ein besonders symbolträchtiges Ambiente ausgesucht. „Auf der Titanic wurde wahrscheinlich noch kein Bridge gespielt, wohl aber Whist, der direkte Vorläufer unseres Spiels“, erläuterte Thomas Valentin, pensionierter Lehrer und langjähriges Mitglied des Clubs. Whist sei damals einer der beliebtesten Zeitvertreibe an Bord gewesen – und wer heute durch die Ausstellung gehe, könne sogar Originalkarten aus jener Epoche sehen, eine Leihgabe aus Irland.
Das Spiel Bridge entwickelte sich erst in den 1920er-Jahren. Insofern war der Auftritt der Rosenheimer nicht nur ein Ausflug in die Geschichte, sondern auch ein Brückenschlag zwischen der tragischen Welt der Titanic und der lebendigen Gegenwart des Kartenspiels. „Das hier ist ein Stück Zeitreise“, meinte Mitspielerin Brunhild Valentin. Der Bridge-Club Rosenheim existiert seit rund vier Jahrzehnten und zählt heute 71 Mitglieder. Dreimal pro Woche treffen sie sich in der Gaststätte Höhensteiger an der Westerndorfer Straße. Dort füllen sie bis zu zehn Tische, vier Spieler pro Tisch, zwei Paare pro Team. Gespielt wird Nord-Süd gegen Ost-West, die Ergebnisse werden verglichen – ein System, das nicht nur strategisches Denken, sondern auch eine gehörige Portion Teamgeist erfordert. „Bridge bringt den Kopf in Schwung und verbindet Menschen“, sagte die Vereinsvorsitzende Dagmar Steffen.
Zwar liege das Durchschnittsalter der Mitglieder deutlich über 60 Jahren, doch darin spiegele sich eher die Ausdauer des Spiels. „Wer einmal angefangen hat, bleibt dabei – oft ein Leben lang bis ins hohe Alter.“ Bridge hat sich vom vermeintlichen Zeitvertreib älterer Herrschaften längst zu einem internationalen Phänomen entwickelt. Turniere, Online-Plattformen und Unterricht an Schulen und Universitäten tragen dazu bei, dass das Kartenspiel weltweit neue Anhänger findet.
In Frankreich, den Niederlanden oder Italien gehört es bereits zum Unterrichtsstoff, um Konzentration und die Teamfähigkeit von Schülern zu fördern. Die positiven Effekte seien gut dokumentiert. Auch in Rosenheim soll die Begeisterung für das Spiel weitergetragen werden. An der Volkshochschule startet am 14. Januar 2026 ein zehntägiger Einführungskurs. Die Teilnehmer lernen Grundlagen des Spiels – das Bewerten der Karten, die Regeln des Allein- und Gegenspiels.
„Der Kurs ist ideal für alle, die neugierig sind und in einer kleinen, geselligen Runde ausprobieren wollen, was Bridge ausmacht“, sagte Ayla Durukan, die Zweite Vorsitzende.
Spiel fesselt Menschen
seit einem Jahrhundert
So wurde der Aktionstag in Rosenheim zu einer Begegnung von Geschichte und Gegenwart. Zwischen den Ausstellungsstücken, die an eine Katastrophe auf dem Nordatlantik erinnern, setzten die Spieler ein leises, aber sichtbares Zeichen für ein Spiel, das Menschen seit einem Jahrhundert fesselt – und das noch lange nicht am Ende seiner Reise angekommen ist.