von Redaktion

Kaum im Ruhestand und schon wieder eine Verpflichtung? Wenn es nach Ökonom Marcel Fratzscher geht, sollen Rentner in Zukunft ein soziales Pflichtjahr leisten. Wie der Rosenheimer Seniorenbeirat und die Leiterin der Seniorenbegegnungsstätte dazu stehen – und was der Vorschlag für Rentner bedeuten könnte.

Rosenheim – Meist sind es eher die jüngeren Menschen, die etwa nach dem Schulabschluss ein Freiwilliges Soziales Jahr ableisten. Doch könnte es das Gleiche bald für Rentner geben? Nur mit dem Unterschied, dass diese Leistung nicht freiwillig, sondern sogar verpflichtend ist? Das zumindest schlug der Ökonom Marcel Fratzscher Mitte des Jahres gegenüber dem „Spiegel“ vor. In Rosenheim ist man darüber schockiert.

Die ältere Generation müsse sich gesellschaftlich mehr einbringen, sagte Fratzscher im Gespräch mit dem Spiegel. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung verlangt, dass sich die Älteren solidarisch zeigen mit den Jungen. Aus Sicht des Seniorenbeirats Rosenheim um die Vorsitzende Irmgard Oppenrieder ist das verpflichtende soziale Jahr aber „nicht sinnvoll, nicht zielführend, verletzend und sogar unverschämt“. Das betonen die Mitglieder auf OVB-Anfrage.

Entscheidungsfreiheit
in der Rente

Der Seniorenbeirat der Stadt setzt sich für die Interessen älterer Bürger ein. Und spricht sich deshalb gegen den Vorschlag von Ökonom Fratzscher aus. „Es ist eine Diffamierung der älteren Generation“, so der Beirat. Das könne Altersdiskriminierung Tür und Tor öffnen. „Die Rentner und Pensionäre haben ihr Leben lang gearbeitet und sollen selbst entscheiden können, wie sie ihren Lebensabend verbringen“, sagen die Seniorenvertreter. Wer will, könne sich engagieren, wie, wo und solange er oder sie möchte. „Wir waren unser ganzes Berufsleben, oft mehr als 40 Jahre, beschäftigt und mussten uns anpassen.“ Darauf könne man im Ruhestand verzichten.

Nötige körperliche
Voraussetzungen

Daran schließt sich auch Lena Schmid, Sozialpädagogin und Leiterin der Seniorenbegegnungsstätte in Rosenheim, an. „Viele Senioren haben bereits ein Leben lang gearbeitet und möchten ihren Ruhestand selbstbestimmt gestalten“, betont sie. Die Sozialpädagogin steht ebenfalls nicht hinter Fratzschers Vorschlag, empfindet ihn „nicht als sinnvoll“. „Gerade in der Altersgruppe der Senioren haben nicht alle die gleichen körperlichen Voraussetzungen“, so Schmid. Und egal ob Jung oder Alt – ohnehin sei nicht jeder körperlich oder psychisch in der Lage, im sozialen Bereich tätig zu sein. „Verpflichtung kann zudem als Eingriff in die persönliche Freiheit empfunden werden“, sagt Schmid. Hinzu kommt Schmid zufolge, dass viele Senioren bereits einen Wehr- oder Zivildienst geleistet hätten.

„Einige Seniorinnen stammen aus einer Generation, in der sie noch ihre Ehemänner fragen mussten, ob sie arbeiten dürfen“, fügt die Einrichtungsleiterin an.

Laut Angaben des Bayerischen Landesamts für Statistik engagierten sich im Jahr 2019 rund 41 Prozent der Menschen in Bayern (ab 14 Jahre) freiwillig. Von den über 65-Jährigen waren rund 39 Prozent ehrenamtlich tätig. Bei den über 75-Jährigen war es knapp ein Viertel gewesen, konnten dementsprechend nicht in die Rente einzahlen und müssen jetzt mit wenig Rente auskommen. „Von diesen Frauen zu verlangen, ein soziales Jahr mit wenig Vergütung zu leisten, finde ich nicht fair“, betont Schmid.

Nicht nur das, der Seniorenbeirat vermutet, dass durch ein soziales Pflichtjahr für Rentner auch Probleme entstehen könnten. „Es könnte unter jungen Arbeitnehmern das Gefühl aufkommen, dass ihrer Generation Arbeitsplätze entzogen werden“, so die Vertreter.

Zwischen Erfahrung
und Bevormundung

Aber hätte dieses Pflichtjahr vielleicht positive Auswirkungen auf die Gesellschaft? Möglich, sagt Pädagogin Lena Schmid. Vor allem soziale Einrichtungen könnten dadurch entlastet werden. „Ein positiver Aspekt sind die Lebenserfahrung und Zeitressourcen, die Senioren mitbringen“, so Schmid. Außerdem gebe es beim Ehrenamt individuelle Vorteile. Dazu gehören soziale Kontakte, die gegen Einsamkeit im Alter wirken, sowie „geistige und körperliche Aktivität als Prävention alterstypischer Krankheiten“. Ehrenamt könne für Senioren sehr sinnstiftend sein – besonders beim Übergang vom Arbeitsleben in die Rente.

Für die Senioren selbst habe der Pflichtdienst keine Vorteile, so der Rosenheimer Seniorenbeirat. „Sie würden im Ruhestand erfahren, dass sie sich auch nach ihrem langen Arbeitsleben jetzt noch Vorschriften, Vorhaltungen und Bevormundungen zu unterwerfen hätten.“ Auch die fortschreitende technische Entwicklung, der die ältere Generation nicht mehr so gut folgen könne, dürfe man nicht vergessen. „Daraus können sich große Probleme entwickeln, die man vor allem im Alter nicht mehr braucht“, so die Senioren.

Viele Rentner bereits
ehrenamtlich engagiert

In Bayern engagieren sich bereits viele ältere Menschen ehrenamtlich. Genaue Zahlen kann Lena Schmid von der Seniorenbegegnungsstätte für Rosenheim nicht nennen. Klar ist aber: Wie so viele andere würde auch diese Einrichtung ohne die Ehrenamtler nicht funktionieren. „Bei uns gibt es 20 ehrenamtliche Senioren, die sich regelmäßig engagieren“, betont Schmid.

Auch der Seniorenbeirat und Vorsitzende Irmgard Oppenrieder sind überzeugt, dass sich bereits viele Rentner ehrenamtlich engagieren. „Sie machen das absolut freiwillig und kostenlos, ohne Aufwandsentschädigung.“ Dadurch hätten sie die Sicherheit, sich ohne Verpflichtung so einbringen zu können, wie sie es möchten. „Wenn sie ihr Ehrenamt nicht mehr ausüben können, warum auch immer, besteht die Möglichkeit, sofort aufzuhören. Ohne sich erklären zu müssen“, so der Seniorenbeirat.

Vorschlag „verletzend, sogar unverschämt“

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