Rosenheim – Seit ihrer Kindheit hatte Aurelia Hölzer den Wunsch, die Polargebiete zu erkunden. Ursprünglich spielte sie mit dem Gedanken, nach Spitzbergen in Norwegen zu reisen. Nur durch Zufall entdeckte sie die Stellenanzeige für die Überwinterung auf der Neumayer-Station III in der Antarktis. Dabei reizte die Oberärztin für Gefäßchirurgie an der Uniklinik Dresden vor allem die Isolation in der Forschungsstation in der Südpolarregion. So ging es 2022 während ihres Sabbatjahres für sie los.
Ein Jahr im ewigen Eis?
„Da steht Aurelia drauf!“
Ein Jahr konnte Aurelia Hölzer ihre Familie nicht sehen. Bedenken habe sie dabei schon gehabt. „Meine Eltern sind in einem Alter, wo auch mal was sein könnte“, sagt Hölzer. Für diese war es dennoch in Ordnung, ihre Tochter ein Jahr in das Südpolargebiet ziehen zu lassen. „Die haben eigentlich alle gesagt, da steht Aurelia drauf“, so die Ärztin. Nur ihrer jüngeren Schwester wäre das ein bisschen zu lang gewesen.
Trotz der Unterstützung der gesamten Familie fiel der Abschied schwer. „Ich habe noch nie überwintert, ich war noch nie in der Antarktis und ich kann aus dieser Einbahnstraße nicht mehr raus, das ist schon ein großer Abschied“, sagt Hölzer. Während des Jahres auf der Neumayer-Station würde sie die Leiterin und die einzige Ärztin der Station sein. Somit oblag ihr allein die ganze medizinische Verantwortung.
Auch wenn Hölzer selbst einen größeren medizinischen Eingriff benötigen würde, wäre niemand da, der ihr helfen könne. „Das war einfach ein Restrisiko, das ich eingegangen bin“, sagt Hölzer. Man könne nicht auf so eine Expedition gehen und hundertprozentige Sicherheit wollen.
Eine winzige Heimat
auf schwimmendem Eis
Die Überfahrt von Kapstadt zur Neumayer-Station dauerte elf Tage. „Man kommt nur im Sommer zur Station, danach ist das Meer über 1000 Kilometer zugefroren, da kommen auch Eisbrecher nicht durch“, sagt Hölzer. Am elften Tag sah die Ärztin zum ersten Mal durch ein Fernglas, die Neumayer-Station. „Ganz winzig auf einem schwimmenden Eis“, so Hölzer.
Danach ging es mit dem Hubschrauber die letzten 50 Kilometer bis vor die Haustür der Station. „Das war ein umwerfender Moment, weil die Antarktis so intensiv, so leer, so öd, aber auch so rein ist“, sagt Hölzer. „Die Stille war richtig laut.“ „Ein ganz fremdes Gefühl, und bei aller Begeisterung war ich auch ziemlich überfordert“, so die Ärztin. Viel Zeit zum Erkunden blieb der Ärztin allerdings nicht, denn die Arbeit ließ nicht lange auf sich warten. Jeder Tag begann gegen 7.30 Uhr. „Am Anfang stürzt man sich auf die Aufgaben und ehe man sich versieht, gewöhnt man sich daran“, sagt Hölzer. Dennoch habe sie ein paar Wochen benötigt, um halbwegs anzukommen.
„Die größte Herausforderung stellt das Leben im Team dar“, so die Ärztin. Man sehe acht Monate immer nur die gleichen Leute. Das sei zugleich aber auch das Schönste gewesen. „Wir haben es ziemlich gut hinbekommen, hatten eine wahnsinnig harmonische Zeit, haben Geburtstage gefeiert, gebastelt, Spiele erfunden und viele Ausflüge ins Eis gemacht“, sagt Hölzer. Dabei wäre die Kälte, auch wenn es zwischendurch minus 50 bis minus 55 Windkühle hatte, nicht so schlimm gewesen. Mit den Temperaturen würde man relativ schnell umgehen können. Was jedoch das ganze Jahr über bleibt, sei die Gruppendynamik. „Wenn es im Team gut läuft, dann ist es auch ein großes Glück, das war eines der schönsten Geschenke für mich aus diesem Jahr“, betont Hölzer.
Auch heute ist Hölzer mit ihrem damaligen Team eng verbunden. „Wir treffen uns immer noch, machen Urlaub miteinander und telefonieren häufig“, so die Ärztin. Es entstand ein familiäres Verhältnis. „Wir fanden es richtig toll, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein“, sagt Hölzer.
Wenn im Sommer das letzte Flugzeug abhebt und die Gruppe alleine zurückbleibt, sei das ein ganz besonderer Moment. Einmal im Jahr kommt das Versorgungsschiff mit dem Einkauf. Wenn etwas leer ist, müsse man improvisieren. „Man freut sich sogar über die letzte Karotte, in die man schon einen Knoten machen kann, weil sie so weich ist“, sagt Hölzer.
Zwei Monate ohne Sonne –
Leben wie im Weltall
„Nach dieser Zeit wird die Lebensperspektive eine andere“, betont die Ärztin. Wenn zwei Monate die Sonne nicht aufgeht, habe man das Gefühl, man ziehe um die Sterne, die auch viel näher sind als auf anderen Kontinenten. „Da ist mir bewusst geworden, dass ich im Weltall lebe“, sagt Hölzer.
Angst habe sie während ihrer Zeit auf der Neumayer-Station keine gehabt. „Ich habe dort so wenig Angst gehabt wie vielleicht noch nie in meinem Leben, weil man einfach von so viel Schönheit und Reinheit umgeben ist“, sagt Hölzer. Man könne sich so ein Lebensgefühl nicht vorstellen. In der Zivilisation sei es anstrengender und angespannter. „Hier ist so viel Druck, Groll und Blick auf Äußerlichkeiten“, so die Ärztin.
Eine Nacht unter dem Sternenhimmel, auf dem zugefrorenen Südpolmeer, zwischen 25000 Kaiserpinguinen und tanzenden Polarlichtern. Ein ganz besonderer Moment, den Hölzer nicht vergessen wird. „Das war wirklich gigantisch“, betont die Ärztin. Rückblickend wäre die Erfahrung ein großes Geschenk. „Überhaupt diesen Ort betreten zu dürfen und diesen engen Teamzusammenhalt erleben zu dürfen, ist unglaublich“, sagt Hölzer. Sie sei mit mehr Vertrauen zurückgekommen, als sie losgefahren ist. Dabei sei der Blick auf die Welt ein anderer geblieben. „Ich sehe vieles aus mehr Distanz und finde auch vieles nicht mehr so wichtig wie früher, die menschlichen Sachen sind mir viel wichtiger geworden“, so die Ärztin.
Die Rückkehr in die Zivilisation sei schwierig gewesen. „Man fühlt sich fremd“, sagt Hölzer. Dabei habe sie sich einsam gefühlt und ihr Team vermisst. Die Freude über ihre Familie und Freunde war natürlich groß. Dennoch sei es nicht dasselbe gewesen. „Die ganze Zivilisation erscheint einem absurd“. „Dieses Arbeiten von Montag bis Freitag und Hin- und Herfahren mit den Autos – man denkt, was tun wir hier?“, sagt Hölzer.
Letzten Endes kam sie doch an. Heute arbeitet sie als Oberärztin für Gefäßchirurgie in der Romed-Klinik Wasserburg.
Im Jahr darauf (2023 bis Anfang 2024) wartete eine viermonatige Inlandsexpedition auf Hölzer. Diese begleitete sie als Expeditions- und Höhenärztin. Startpunkt: die Neumayer-Station. „Ich kam nochmal nach Hause“, so die Ärztin. Die Chance auf das Überwintern in der Neumayer-Station hat man jedoch nur einmal. „Es werden jedes Jahr neue Teams ausgebildet, weil der Teamprozess, alles selbst zu entdecken, mit einem Besserwisser gestört werden würde“, so Hölzer. Aber das Wissen darüber, dass man diese Erfahrung nur einmal machen darf, würde das Überwintern so toll machen. „Man muss einfach jeden Tag genießen.“
Diese einmalige Erfahrung wollte sie mit den Menschen teilen und hat ihre Erfahrungen aufgeschrieben. Wenn sie könnte, würde Hölzer nicht noch einmal auf der Neumayer-Station überwintern wollen. Allerdings nicht, weil die Erinnerungen negativ seien. Im Gegenteil. „Das war so besonders, dass ich das unangetastet lassen möchte“. Für ein anderes Abenteuer in Isolation wäre sie jedoch jederzeit zu haben.
Leser reisen gemeinsam
in den „Polarschimmer“
Zum Ende der Überwinterung hätte sich abgezeichnet, dass aus der einmaligen Erfahrung ein Buch entstehen soll. In „Polarschimmer“ will Hölzer die Leser durch ihr Jahr in der Antarktis mitnehmen. „Sie sollen erleben, was uns passiert ist, vom ersten Mal auf dem Eis bis zu dem Wissen, woher Strom und Wasser kommen“, so Hölzer.
„Mein Wunsch ist es, dass die Leser mitfühlen können, wie das Lebensgefühl in der Isolation ist“, sagt die Ärztin. Für ein gutes Miteinander bräuchte es jedoch eigentlich keine Isolation. Die besonderen Momente und die Schönheit der Erde, das könne man alles auch in der Zivilisation finden.