Rosenheim/Traunstein – Es muss alles unfassbar schnell gegangen sein. „Ich habe nur kurz nach rechts geschaut – plötzlich war da eine Waffe. Dann gab es einen lauten Knall“, sagt der 24-jährige Rosenheimer mit angeschlagener Stimme. Seit diesem Moment ist in seinem Leben nichts mehr, wie es war. „Mir geht es scheiße, ich kann weder schlafen noch arbeiten, Sport geht auch nicht mehr. Ich gehe nicht mehr gern raus, will nicht mehr alleine sein“, sagt der selbstständige Handwerker. Derjenige, der dafür verantwortlich sein soll, sitzt nur ein paar Meter von ihm entfernt.
Auf der Anklagebank des Traunsteiner Landgerichts hat ein älterer Mann mit Halbglatze Platz genommen. Aus Rosenheim ist er, 68 Jahre alt. Er trägt die blaue Kleidung aus dem Gefängnis, sein Gesicht ziert ein langer, weiß-grauer Bart. Während die Staatsanwältin das vorliest, was am 17. April an seinem Haus passiert sein soll, sitzt er fast regungslos tief versunken in seinem Stuhl. Nur bei wenigen Punkten, als es um Waffen und Beleidigungen geht, zieht er seine buschigen Augenbrauen nach oben.
Ansonsten wirkt er ein wenig teilnahmslos, fast so, als ob er nicht ganz nachvollziehen könne, warum er gerade hier sein muss. Vorgeworfen wird ihm aber etwas, das ihn im härtesten Fall lebenslang ins Gefängnis bringen könnte: versuchter Mord. An jenem Tag soll der Senior mit dem Handwerker in Streit geraten sein, diesen mehrfach wüst beleidigt und bedroht haben – und am Ende auf ihn mit einer Pistole geschossen haben. Davon ist die Staatsanwaltschaft überzeugt. Und das nur, weil der Bauarbeiter auf dem Grundstück gegenüber Pflasterarbeiten durchführte. Von dem Lärm des Schneidens der Steine mit einer Motorflex habe sich der Rentner überfordert gefühlt, erklärt sein Verteidiger Axel Reiter. „Aus seinem Ort der Ruhe wurde eine Baustelle“, trägt er für seinen Mandanten vor. Der Angeklagte äußert sich nur spärlich. Und auch nur zu seinen persönlichen Verhältnissen. Aber selbst dann sind die Antworten auf Nachfragen des Gerichts wortkarg, eher widerwillig und zynisch.
Zum Beispiel dann, als es um seine Kindheit, den Alkoholkonsum oder die Familienverhältnisse geht. Der gelernte technische Zeichner und Schlosser ist geschieden, Kontakt zur Tochter habe er schon lange nicht mehr. Auch seine politische Einstellung will der Richter wissen. Schließlich soll der 68-Jährige zu dem Bauarbeiter mehr als einmal gesagt haben: „Verpiss dich, du Drecks-Kanake“ – neben Gesten des Halsabschneidens und Sätzen wie „Ich schieß dir in den Kopf“.
Diese Bedrohungen und Beleidigungen hätten schon kurz nach Beginn der Bauarbeiten begonnen, sagt der 24-Jährige aus, der die bosnische Staatsangehörigkeit besitzt. Oft hätten die Sprüche einen ausländerfeindlichen Hintergrund gehabt. Rassistisch sei das aber nie gemeint gewesen, beteuert der Rentner knapp. „Kanake ist doch kein Schimpfwort, das bedeutet Mensch aus der Südsee“, sagt er und schüttelt auf die Andeutung, dass Fremdenfeindlichkeit hinter seinem Ausraster stecken könnte, ungläubig den Kopf.
Was der Rentner nicht leugnet: Dass der Nachmittag des 17. April sich weitestgehend so abgespielt hat, wie es in der Anklage steht. Über seinen Verteidiger lässt er mitteilen, dass er seinem Unmut freien Lauf gelassen habe. Schon die Wortwahl beim Streit sei aber unangebracht gewesen. Er wollte den 24-Jährigen nur auffordern, dass dieser die Arbeiten einstellt. „Damit endlich der unerträgliche Baulärm aufhört, der über mehr als ein Jahr fast täglich vor seinem Küchenfenster herrscht.“
Nach dem Streit sei der 68-Jährige zurück ins Haus. Inzwischen waren auch zwei Polizisten eingetroffen, die der Handwerker gerufen hatte. Verhindern konnten sie den Schuss aber nicht. Da der Krach weiterging, fasste der Rentner den Entschluss „den Bauarbeiter zu erschrecken“. Mit einem „gezielten Warnschuss“ auf den rund neun Meter entfernten kleinen Radlader, mit dem der Handwerker gerade an seinem Küchenfenster vorbeifuhr.
Kugel verfehlt Bauarbeiter
nur um 50 Zentimeter
Treffen habe er den 24-Jährigen aber nie wollen, verkündet Verteidiger Axel Reiter. Die Kugel schlug rund 50 Zentimeter unterhalb des Fahrersitzes ein – knapp über dem Reifen. Das gezielte Schießen beherrsche sein Mandant seit seiner Zeit bei der Bundeswehr. Den Bauarbeiter zu verletzen oder gar zu töten, das habe er nie vorgehabt.
Dass die Situation überhaupt eskaliert ist, tue dem 68-Jährigen sehr leid, sagt sein Anwalt. Am liebsten wäre es ihm, wenn er die Geschehnisse rückgängig machen könnte. Das wünscht sich wohl auch der 24-Jährige. Bei dem Sprung vom Radlader, um sich vor möglichen weiteren Schüssen zu retten, habe er sich an der Rippe und am Becken verletzt. Vernünftig gehen könne er seitdem nicht mehr, sagt der 24-Jährige. Deswegen sei er auch in ärztlicher Behandlung. Die körperlichen Folgen seien das eine, die psychischen das andere. Fast habe er seine Firma deswegen aufgegeben. Er brauche seitdem Therapie, sagt der 24-Jährige mit leiser Stimme. Der Vorfall beschäftige ihn noch heute jeden Tag. Auch, weil er genau gesehen habe, wie der 68-Jährige mit seiner Waffe auf seinen Kopf gezielt habe. Nach dem ersten Schuss sei er hinter eine Mauer geflüchtet. Dort sei er geblieben, bis die Polizei das Haus umstellte und das SEK den Rentner festnahm.
Vieles dreht sich an diesem ersten Prozesstag nach dem Teilgeständnis um die Frage, wie der Fluchtweg des 24-Jährigen aussah. Ob er nur schnell gelaufen sei, ob es ein Vollsprint war, oder, ob im Schussfeld Gegenstände waren. Wohl, um zu klären, ob der Schütze ein zweites Mal hätte feuern können.
Auch eine Polizistin sagt aus. Sie war mit ihrem Kollegen die Erste vor Ort. Der Schuss fiel, als die Beamten gerade zur Tür des Rentners unterwegs waren. Als sie um das Haus herumliefen, sei der 24-Jährige „panisch“ am Radlader herumgelaufen – nach wie vor im Schussfeld. Erst ein paar Augenblicke später habe er sich Deckung gesucht. Diese Sekunden werden auch die nächsten Verhandlungstage am 25. November und 15. Dezember bestimmen. Denn der Vorsitzende Richter Volker Ziegler machte klar: „Es kommt auf jedes Detail an.“