Prozess um möglichen Übergriff im Aufzug

von Redaktion

Mann soll Frau (35) am Bahnhof sexuell belästigt haben – Freispruch aufgrund vieler offener Fragen

Rosenheim – Dieser Fall war in mehrerer Hinsicht nicht einfach. Am Rosenheimer Bahnhof soll ein 30-jähriger Mann laut Anklage unter Zwang eine 35-jährige, geistig beeinträchtigte Frau vom Bahnsteig weggeführt und sie im Lift sexuell belästigt haben. Wie sich in der ersten Verhandlung herausstellte, war der Angeklagte aber selbst beeinträchtigt. Deshalb musste geklärt werden, ob er überhaupt schuldfähig ist, ob die Berichte des Tatopfers tatsächlich auf dem Erlebten beruhen und ob sie wirklich deutlichen Widerstand – so wie berichtet – geleistet hat.

Unterschiedliche Aussagen
zum Angeklagten

Zunächst waren dazu auch in der zweiten Verhandlung erneut Augenzeugen zu befragen. Dabei stellte sich heraus, dass der Freund des Opfers, der sich auf dem anderen Bahnsteig befand, lediglich beobachtet hatte, dass sich die beiden gemeinsam vom Bahnsteig entfernten. Zudem musste davon ausgegangen werden, dass er selbst Beobachtetes, Berichtetes und eigene Interpretationen heftig durcheinanderbrachte.

Etwas anderes sagte sein Vater. Dieser gab an, dass er als Zugbegleiter den Angeklagten häufig als Passagier gesehen habe und dass dieser sich immer wieder an junge Frauen heranmache. Dies wollte er damit belegen, dass der 30-Jährige sich nach seiner Meinung immer neben junge Frauen setze. Darüber geriet der Vater mit dem Verteidiger, Rechtsanwalt Azem Jamil, so in Streit, dass ihn die Vorsitzende Richterin Dr. Deborah Fries zur Ordnung rufen musste.

Videoaufnahmen liefern
keine Aufklärung

Erneut wurden auch die Videoaufnahmen vom Rosenheimer Bahnhof gezeigt, wobei die Betreuerin des Tatopfers von der Verteidigung befragt wurde, ob diese Aufnahmen inhaltlich mit dem Bericht des Tatopfers übereinstimmen würden. Dazu erklärte sie, dass dies objektiv betrachtet nicht der Fall sei. Vielmehr würde das wie ein vertrauter Kontakt wirken – wobei sie einschränkte, dass man nicht hören könne, was gesagt wurde.

In einem darauffolgenden Rechtsgespräch regten die Verteidiger erneut die Einstellung des Verfahrens an, dem sich die Staatsanwaltschaft jedoch nicht anschließen konnte. Die psychologische Gutachterin Nicole Liwon bestätigte, dass es sich bei dem Angeklagten um einen beeinträchtigten Mann handele, der einen IQ-Test gar nicht zur Gänze bewältigt habe und einen IQ-Wert von höchstens 55 Punkten aufweise. Höchst aufschlussreich war schließlich auch das psychologische Gutachten von Bahadin Razari, welche zu beurteilen hatte, ob die Aussagen des Tatopfers tatsächlich erlebnisbasiert oder durch Fremdeinflüsse beeinflusst sein könnten. Zunächst bestätigte sie, dass dies bei einer geistig beeinträchtigten Person schwieriger sei als bei Durchschnittsintelligenz, andererseits fehle diesen Menschen manchmal die Fähigkeit zum Lügen.

Was aber keineswegs bedeuten müsse, dass die betroffenen Personen immer die objektive Wahrheit berichten, weil sie in erheblichem Maße Fremdeinflüssen und suggestiver Wortwahl ausgeliefert seien. Allein die Tatsache, dass die Frau nicht in der Lage sei, zusammenhängend offene Fragen zu beantworten und die Situationen immer wieder fragend beschrieben werden müssen, um zu Antworten zu kommen, ergebe Suggestionen, denen diese Frau unbewusst nachgeben würde.

In der Summe kam sie zu dem Ergebnis, dass die 35-Jährige vielen Suggestivfragen ausgesetzt worden sei und sie in weiten Bereichen auch Erinnerungen aus anderen Informationen in das erinnerte Tatgeschehen einbeziehe. Die Gutachterin konnte so nicht bestätigen, dass die Aussagen des Tatopfers erlebnisbasiert seien.

DNA an intimster Stelle
belegt einen Kontakt

Der Staatsanwalt Wolfgang Fiedler sah sich daher einer höchst schwierigen Aufgabe gegenüber. In seinem Schlussvortrag erklärte er, dass es sich objektiv fraglos tatsächlich um einen sexuellen Übergriff nach Paragraf 177 Strafgesetzbuch gehandelt habe. Das werde durch die DNA des 30-Jährigen im Slip der Frau zweifelsfrei belegt. Und dennoch: Der Angeklagte sei freizusprechen.

Weder hätten die Videoaufzeichnungen einen tatsächlichen Zwang belegt, noch sei der 30-Jährige nachgewiesenermaßen in der Lage gewesen, die Beeinträchtigungen der Frau zu erkennen. Dass das Tatopfer die Handlungen verweigert oder abgelehnt hat, sei ebenfalls nicht nachweisbar, auch wenn er davon überzeugt sei. Deshalb müsse ein Freispruch ergehen, betonte Fiedler.

Rechtsanwalt Alexander Kohut stimmte mit dem Staatsanwalt überein. Betonte aber, dass aus dem Video hervorgehe, dass der 30-Jährige und die 35-Jährige sich umarmend aus dem Lift kamen, in dem der sexuelle Übergriff stattgefunden hatte – was auch die Verteidigung nicht bestreite. Jedoch sei dem Staatsanwalt recht zu geben, dass angesichts aller Umstände ein Freispruch zu ergehen habe. Rechtsanwalt Azem pflichtete seinem Kollegen bei.

Genaue Umstände
nicht nachweisbar

Das Schöffengericht stimmte beiden Anträgen zu und sprach den Angeklagten frei. Nirgends sei ersichtlich oder beweisbar, dass es sich um Zwang durch den Angeklagten gehandelt habe. Über das Geschehen im Aufzug gebe es ebenfalls keinerlei verlässliche Angaben. Einzig die Spuren im Slip ergeben die Tatsache, nichts aber über die Umstände. Aufgrund der Gegebenheiten sei dies die richtige Entscheidung.

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