Rosenheim – Schätzungsweise eine halbe Million Menschen – Frauen, Männer, Kinder aus ganz Europa – wurden, weil sie Sinti und Roma waren, in Konzentrationslagern und bei Massenerschießungen der SS und des SD ermordet. Nur wenige überlebten. Dass sie heute in gleichem Maße wie die ermordeten jüdischen Mitbürger zu den Opfern des Nationalsozialismus gezählt werden, ist keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil.
Jahrzehntelang blieben sie auch nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur eine gering geschätzte, nicht selten offen verachtete Bevölkerungsgruppe, die sich tatsächlich immer wieder Repressionen durch Justiz und andere Behörden ausgesetzt sah.
Es war ein langer Kampf der in den 1970er-Jahren neu entstandenen Bürgerrechtsbewegung, bis sich daran etwas änderte. Auch Peter Höllenreiner setzte sich für die Anerkennung und Rechte seiner Landsleute ein. Kurz vor seinem vierten Geburtstag war er mit seiner Familie in das KZ Auschwitz/Birkenau deportiert worden, es folgten die Lager Mauthausen, Ravensbrück und Bergen-Belsen. Er überlebte die Hölle. Doch nach 1945 sah er sich weiterhin mit Ausgrenzung und massiven Vorurteilen konfrontiert.
Dass Peter Höllenreiner, der im Juli 2020 starb, zu einem öffentlichen Zeitzeugen und Kämpfer gegen dieses Unrecht wurde, ist auch der Kulturwissenschaftlerin Dr. Maria Anna Willer zu verdanken, die ihn zwei Jahre lang biografisch begleitete und diese „Begegnung“ in einem Buch festhielt.
Aus „Der Junge aus Auschwitz … eine Begegnung“, das sie 2015 veröffentlichte, wird sie zusammen mit den Nachkommen von Peter Höllenreiner am heutigen Donnerstag um 18.30 Uhr im Theatersaal des Künstlerhofs in Rosenheim lesen.
Frau Dr. Willer, Sie beschäftigen sich beruflich immer wieder mit der Zeit des Nationalsozialismus, dessen Verbrechen und auch mit der Frage, ob und wie diese Zeit aufgearbeitet wurde. Auch in Ihrer Doktorarbeit geht es um dieses Thema. Als Sie Peter Höllenreiner begegneten, war Ihnen da das Unrecht bekannt, dem sich Sinti und Roma auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgesetzt sahen?
Nicht in diesem Ausmaß. Absolut nicht. Die Schilderungen von Peter Höllenreiner von den Vorverdächtigungen, denen er sich als Sinto fast sein ganzes Leben lang ausgesetzt sah, die teilweise sogar zu irrtümlichen Verhaftungen führten, waren für mich erschreckend. So sehr, dass ich mich anfangs fragte, ob er nicht übertreibt, bis ich dann durch meine Recherchen in Protokollen und Archiven erkannte: Da stimmt alles.
Warum hat Peter Höllenreiner Ihnen sein Leben erzählt?
Vielleicht, weil er in mir jemanden fand, der ihm zuhörte. Eines war ihm wichtig: Er wollte Gerechtigkeit, er wollte gleichberechtigte Anerkennung und Respekt: „Ich bin Deutscher, wie alle anderen auch“ sagte er immer wieder. Und man muss es auch heute noch extra betonen: Beim Stichwort Gerechtigkeit ging es ihm nicht um den Kampf um Entschädigungszahlungen, die 1956 vom Bundesgerichtshof abgelehnt worden waren: weil Sinti und Roma ja nicht aus „rassischen Gründen“ verfolgt gewesen seien, sondern es habe sich damals unter den Nationalsozialisten um eine „kriminal präventive Maßnahme“ gehandelt. Es ging ihm nicht um das Geld, es ging ihm um die Verachtung und um die Vorurteile, die in der bundesdeutschen Gesellschaft, auch in den staatlichen Institutionen, vorhanden waren, wie ja zum Beispiel dieses Urteil zeigt. Wohlgemerkt: ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes.
Nun hat sich daran ja glücklicherweise doch etwas geändert: 1982 erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die Verbrechen an den Sinti und Roma als Völkermord aufgrund der „NS-Rassenideologie“ an, der Bundesgerichtshof entschuldigte sich für sein einstiges Urteil – zwar erst 2016, aber immerhin. Und seit die Ergebnisse der Unabhängigen Kommission Antiziganimus 2021 vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurden, arbeiten Politik und Behörden daran, den sogenannten „strukturellen Antiziganismus“ aufzuarbeiten. Ihr Buch, diese Schilderung der Nachkriegsjahrzehnte von Peter Höllenreiner, hat an dieser Entwicklung ihren Anteil. Sind Sie stolz darauf?
Ja und nein. Natürlich ist man zufrieden, wenn man denkt, diese Entwicklung zu einem ganz kleinen Teil mit angestoßen zu haben. Auf der anderen Seite: Der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Schätzungsweise 100.000 Sinti und Roma leben heute in Deutschland, von denen sich aber nur wenige trauen, sich zu ihrer Herkunft zu bekennen, selbst wenn sie darauf sehr stolz sind: Immer noch ist da die berechtigte Angst, plötzlich schlecht behandelt zu werden, wenn bekannt würde, dass man zu denen gehört, die in den 1970er-Jahren „Landfahrer“ genannt wurden, heute kursiert das Wort „Rotationseuropäer“. Und schlimmer noch: Die Auswirkungen des Nationalsozialismus interessieren viele Menschen nicht mehr. Dabei ist es wichtig, aus der Geschichte zu lernen, damit sie sich nicht wiederholt. Zeitzeugen konnten die Grausamkeit der Diktatur am besten vermitteln, doch die meisten sind gestorben, so wie auch Peter Höllenreiner. Deswegen bin ich sehr dankbar, dass die Nachkommen von Peter Höllenreiner mit mir lesen werden.
Das verweist auch auf eine Besonderheit Ihres Buches.
Ja, denn ich habe die Lebensgeschichte Peter Höllenreiners nicht in der Form einer klassischen Biografie geschrieben, als Autorin, die alles weiß, aber selbst unsichtbar bleibt. Ich habe mich mit meinen Fragen und mit meinen Gefühlen mit eingebracht. Deshalb kommen in diesem Buch mehrere Stimmen zu Wort, die von Peter Höllenreiner in wortgenauen Zitaten, meine Person und schließlich die „neutralen“ Fakten. Von daher ist das Buch ideal, um bei einer Lesung verschiedene Personen zu beteiligen.
Johannes Thomae