Stuttgart – Joachim Löw war so beschwingt, dass er etwas Unerhörtes tat: Der Bundestrainer klaute einen Ball.
Die Original-Spielbälle gehören dem jeweiligen Dachverband (FIFA, UEFA bei Qualifikationsrunden), sie werden nach einem Match einkassiert, damit sie nicht auf Auktionsplattformen auftauchen und unerhörte Erlöse an den Organisationen vorbei erzielen. Aber Jogi Löw schaffte es, mit einem der 6:0-Bälle das Stuttgarter Stadion zu verlassen. „Ich brauch’ mal wieder einen für den nächsten Hobbykick.“
Löw war angesteckt vom gerade Erlebten. Vom guten Spiel, das das gegen Norwegen von der ersten Aktion an war, doch vor allem von der „fröhlichen Atmosphäre – so wie es beim Fußball sein soll“, wie es auch DFB-Präsident Reinhard Grindel empfand.
Der Verband hatte diesen Befreiungsschlag gebraucht. Die dominierenden Themen bis zum Anpfiff in Stuttgart waren: Die Nazis unter deutschen Fußball-Reisenden, die am Freitag beim Spiel in Prag gestört hatten, die Probleme, die der deutsche Fußball mit Fans hat, das miese Image des jungen und hochbegabten Stürmers Timo Werner, das zu weiteren Feldern führt. Wie hart darf das Publikum über die Akteure richten, wie tiefgreifend ihre Vereinswahl (Leipzig) kritisieren, wie lange ihnen einen Fehler (Schwalbe in einem Bundesligaspiel) nachtragen? Doch dann: „Haben wir erlebt, wie schön Fußball sein kann“, sagte Joachim Löw. Glücklich, obwohl sein Team immer noch nicht fix für die WM 2018 qualifiziert ist.
Danke Stuttgart also. Nicht zum ersten Mal in der jüngeren Fußballgeschichte. Immer wieder funktioniert der Standort. Besonders wenn man ihn braucht. Das war schon vor gut elf Jahren so. Die Erinnerung: Bei der WM 2006 war der Finaltraum einer Nation durch die Niederlage in Dortmund gegen Italien geplatzt, das Sommermärchen schien vorbei zu sein. Blieb noch das Spiel um Platz drei gegen Portugal. Lästige Pflicht. Doch es entwickelte sich ein wunderbar leichter Fußballabend am Neckar, eine Party, die mehr zu einem positiven Deutschland-Bild beitrug, als es ein WM-Gewinn damals getan hätte. Die Zuschauer waren entfesselt, sie wollten nicht aufhören zu feiern, Tausende belagerten zuvor und hernach das Hotel Graf Zeppelin am Bahnhof, in dem die Mannschaft logierte. Bundestrainer Jürgen Klinsmann – die Szene ist in Sönke Wortmanns WM-Film festgehalten – stand am Fenster, schaute aufs Volk und sagte wissend: „Die Schwaben.“ Er ist selbst einer.
Das Prinzip Heimatabend griff auch am Montagabend gegen Norwegen. Die Zuschauer waren entschlossen zu einer Positionierung gegen die rechten Umtriebe – und zu bedingungslosem Support für Timo Werner. Man hätte ihm nachtragen können, dass er den VfB vor einem Jahr nach dem Abstieg verlassen hatte – doch man umjubelte ihn, wie der 21-Jährige es noch nicht erlebt hat. Er war angefasst von der demonstrativen Liebe. „Ich freue mich, dass ich so herzlich empfangen wurde in meiner – ja: Heimat.“ Joachim Löw fand die Timo-Werner-Sprechchöre „gut und angemessen“.
Löw war selbst VfB-Spieler gewesen, hier hatte er auch seine erste Proficheftrainerstelle. Sein Assistent Thomas Schneider war VfB-Coach; Joshua Kimmich, Antonio Rüdiger und Sebastian Rudy, die wie Timo Werner von Beginn an spielten, entstammen der VfB-Schule, ebenso die alten Haudegen Sami Khedira und Mario Gomez, die er mit feinem Gespür einwechselte. Stuttgart, das in den vergangenen Jahren auch Siege gegen Brasilien (2011 beim ersten gemeinsamen Auftritt der Spielmacher Özil und Götze = Götzil) und Chile (2014) erlebt hatte, bebte.
Auffallend war die Sympathie, mit der Mario Gomez (reife Generation) Timo Werner (junge Generation) beim Wechsel begegnete. Werner sagt vorsichtig: „Ich würde mich nicht als Stürmer Nummer eins bezeichnen“, aber er ist es, er hat mit sechs Toren in acht Länderspielen Gomez den Rang abgelaufen und Löw lobt: „Er macht das, was dem Gegner extrem wehtut und schwer zu verteidigen ist, er hat Zug zum Tor und diese Schnelligkeit, er läuft ständig quer und tief, das ist für unser Kombinationsspiel gut.“ Gomez hat diese Qualitäten nicht in dem Maße – dennoch gewinnt man den Eindruck, er gönne dem schwäbischen Landsmann den Erfolg im Nationalteam. „Timo ist ein feiner Kerl“, sagt Gomez, „auf der ganzen Welt haben Spieler schon Schwalben gemacht, nur um ihn hat sich das verselbständigt.“ Für Mario Gomez ´gilt der Vorsatz „wie in den letzten zwei Jahren: Ich bin da, wenn ich gebraucht werde.“ Zum 6:0 steuerte er einen Treffer bei. Auch er hatte es nicht immer leicht bei Länderspielzuschauern – schön daher für ihn dieser Heimatabend, sein vermutlich letzter.
Wichtiger als die sportliche Dimension aber war die politische und dass Botschaften ausgesendet wurden. Gomez bilanzierte: „Ich habe das Gefühl, dass die Zuschauer was verstanden haben.“