„Fans identifizieren sich nicht mit Zirkusartisten“

von Redaktion

Der Sportphilosoph Elk Franke über Paris’ Millionen-Stars, Becker gegen Stich sowie die Fußballszene in 20 Jahren

München – Paris St. Germain hat mit dem Zukauf von Neymar für 222 Millionen Euro und Kylian Mbappé für 180 Millionen für Schlagzeilen gesorgt. Der Sportphilosoph Professor Elk Franke von der Humboldt-Universität Berlin erklärt, warum die Unsummen das Verhältnis von Fans, Vereinen und Spielern so belasten.

-Herr Professor Franke, wie ist eine Fußballszene zu sehen, in der Beträge wie 222 Millionen Euro für einzelne Spieler fließen?

Die echten Fans, die sogenannten „Kuttenfans“, haben im Gegensatz zu den „Konsumfans“ längst Antennen dafür entwickelt, dass sich ihr Sport von der Basis ablöst. Ein Klub wie Paris riskiert, dass bei seinen eingekauften Helden das „Wir-Gefühl“ der echten Fans verloren geht. Ein Millionenstar wird zwar bejubelt, aber nur solange, wie er Erfolg hat. Das bedeutet, dass auch der Verein, der mit Menschen wie mit Hedgefonds handelt, zum Erfolg verurteilt ist. Bleibt dieser aus, verwelken die Vorschusslorbeeren schnell.

-Weil die Toleranzgrenze sinkt, wenn die Identifikation verkauft wird?

Die Bereitschaft der Fans, sich mit dem Verein zu identifizieren, relativiert sich zusehends. Wir erleben in den letzten Jahren eine Transformation vom Identifizierungs- zum Unterhaltungsfußball. Konsumfans erwarten eher die Attraktivität einer Zirkusveranstaltung als einen Wettkampf. Daher bin ich gespannt, wie lange die Begeisterung in Paris gegenüber den vom Ölscheich finanzierten Helden ihren Bestand hat.

-Wann wird ein Star zu einem Helden, mit dem ich mich identifizieren kann?

Anders als im Zirkus, wo ich die Leistungen der Artisten bewundere, bietet der Fußball die Möglichkeit, dass der Spieler an meiner statt handelt: Er handelt für mich. Wie bei einem Drama leide ich mit meinem Helden. Ich erkenne mich wieder, weil ich seine Fehler begehen könnte, oder fiebere mit, weil ich seinen Taten nacheifern möchte. Mit einem 222-Millionen-Mann Neymar oder einem 14,7-Millionen-Steuersünder Cristiano Ronaldo kann ein Fan aber nicht mehr mitleiden.

-Warum nicht?

Wir bewundern einen Neymar wie einen Zirkusartisten. Aber Fans identifizieren sich nicht mit einem Artisten. Das klassische Helden-Ideal, bei dem der Held aus der profanen Welt in höhere Sphären aufsteigt und mich dabei mitnimmt, wird aus Artistenperspektive nie eingelöst. Nehmen wir Boris Becker und Michael Stich im Tennis.

-Was meinen Sie in diesem Zusammenhang?

Becker faszinierte mit Höhen und Tiefen in seinem Spiel sowie mit privaten Kapriolen – der brave Stich blieb immer in der zweiten Reihe, weil seine Artigkeit keine Anknüpfungspunkte für eine Heldenidentifikation bot. Wenn ein Sportler abgezockt und kühl agiert und man das Gefühl hat, er nutzt seine Fähigkeiten nur aus, geht die Basis-Nähe verloren. Da sind wir wieder beim Artisten.

-Wurde auch deshalb ein Bastian Schweinsteiger, als er sich im WM-Finale 2014 blutend über den Platz schleppte, so umjubelt?

Genau. Ein anderes Gegenbeispiel ist wieder Steffi Graf. Sie hatte lange das Image, sie spiele Tennis wie eine Maschine. Perfektion ist die Relativierung des Helden-Seins. Ein Held muss überhöht werden, aber er muss sich durch seine eigene Art nach oben arbeiten – nur so wird er zur Legende. Ein Boris Becker, wenn er nach seiner Rolle die Faust ballt oder im Tiebreak nach dem x-ten Matchball gegen sich noch immer da ist – und gewinnt, zum Beispiel. Oder die Helden von Bern. Schweinsteiger im WM-Finale, da zeigt sich eine Authentizität, die man dem Sport gerne zuschreibt. So entsteht Bindung – auch, weil ich als Fan es gesehen habe, ich habe mitleiden können, wie dieser Schweinsteiger, ein Mensch wie ich, da blutend bis zum Ende gekämpft hat. So wird man greifbar als Mensch und Held.

-Insgesamt wird das Rad wohl nicht wieder zurückgedreht. Wie sieht der Fußball in 20 Jahren aus?

Das ist ein Blick in die Glaskugel. Ich glaube, der Fußball wird dann in zwei oder drei unterschiedlichen Systemen stattfinden. Das sich immer schneller drehende Finanzkarussell wird zu einer Europa-Liga geführt haben, die unabhängig von nationalen Meisterschaften einen Fußballbetrieb organisiert, dessen Nachfrage sich vor allem aus seinem Unterhaltungswert ergibt. Auf zweiter Ebene wird der nationale Profifußball sich so organisiert haben müssen, dass mit neuen Transferreglungen auch kleinere Klubs konkurrenzfähig sind. Und schließlich glaube ich weiter an die Faszination des regionalen Fußballs, der sich als klassischer Identifizierungsfußball neu stabilisieren wird.

Interview: Andreas Werner

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