Die Problematik an diesen Fachkongressen ist, dass die, die daran teilnehmen, meist ohnehin schon überzeugt sind. „Ich spreche immer vor den falschen Leuten“, bedauerte also Klaus Bös zu Beginn seines Referats beim 5. fit4future-Kongress in Bad Griesbach, der diesmal unter dem Motto stand: „Kita und psychische Gesundheit von Kindern“. Bös, renommierter Sportwissenschaftler der Uni Karlsruhe, hielt ein faszinierendes, an vielen Stellen aber auch erschütterndes Plädoyer für die Bedeutung der Bewegung in der kindlichen Entwicklung, zur Stärkung des Körpers und der Psyche. Die rund 100 Zuhörer aber, die im Plenum saßen, wussten ja längst, wie schlecht bestellt es ist um die motorischen Fähigkeiten der heranwachsenden Generation. Und welch erschreckende Auswirkungen das hat.
Die psychische Gesundheit der Kinder stand zwei Tage lang im Mittelpunkt der Gespräche und immer wieder kristallisierte sich heraus, wie sehr das Wohlbefinden auch von Bewegung abhängt, vom Spaß am Sport, der früh möglichst früh, also schon vor dem Schuleintritt, gefördert werden muss: „Wer Bildung fordert, muss Gesundheit stärken“, appellierte Eva Reichert-Garschhammer vom Staatsinstitut für Frühpädagogik. Wie prägend die Kita-Jahre sind, schilderte eindrucksvoll Majken Bieniok von der Universität Potsdam. Schon in ganz frühen Jahren ersetzt heute oft Medienkonsum die natürliche Bewegung, dazu komme falsche Ernährung, „die auch die Entwicklung des Gehirns stört.“ Stress, der selbst bei unter Sechsjährigen schon vermehrt zu verzeichnen ist, könne durch Bewegung abgebaut werden, so Dorothée Remmler Bellen vom Berufsverband der Präventologen.
Eine Sitzwelt
Wie sehr aber gerade die Bewegung mehr und mehr verkümmert ist in den letzten Jahrzehnten, schilderte recht eindringlich Klaus Bös. Wo sich einst Kinder ihre Umwelt laufend erschlossen haben und dabei wertvolle soziale Erfahrungen sammelten, dominiert heute das „Taxi Mama“, das die Kids überall hinbringt, oft bis direkt vor die Haustür. Bevor man, wie früher, zu einem Freund läuft, ruft man ihn lieber an, sucht Kontakt über Facebook: „Da geht so viel an Bewegung verloren, die Welt wird zur Sitzwelt.“ Neun Stunden Liegen, neun Stunden Sitzen, nur eine Stunde Bewegen, davon vielleicht 15 bis 30 Minuten intensiver, das ist laut Bös der moderne Alltag unserer Kinder. Selbst in einer Sportstunde an der Schule ist ein Schüler nur drei bis zehn Minuten wirklich in Bewegung.
Bös ist viel herumgekommen in der Welt, er zeigt Beispiele aus fernen Ländern, wo Kinder täglich mehr als zehn Kilometer zu Fuß unterwegs sind, ihre Alltagsgeschicklichkeit auf klapprigen Fahrrädern entwickeln, bei Spiel und Bewegung im freien Gelände ihre Motorik schulen. Und bei uns? Daddeln sie auf dem Smartphone, sitzend, bewegt werden nur die Finger.
Die Folgen sind drastisch. Bös hat seit mehreren Jahrzehnten Daten gesammelt, die früher nicht erhoben wurden. Jetzt kann er vergleichen. Von 1976 bis 2006 haben sich die Leistungen beispielsweise im Standweitsprung um 14 Prozent verschlechtert, beim Rumpfbeugen können nur noch 53 Prozent der Buben und 33 Prozent der Mädchen mit den Fingern den Boden erreichen, nur 35 Prozent schaffen zwei Schritte beim Rückwärtsbalancieren auf einem drei Zentimeter breiten Band. „Dramatisch“ findet das Bös und nennt weitere erschreckende Zahlen: Zehnjährige Buben sind heute im Schnitt drei Kilo schwerer, 20 Prozent leiden unter Übergewicht, „die Zahl hat sich verdoppelt.“ 7,1 Prozent der Viertklässler sind sogar von Adipositas betroffen, „das ist das größte Problem“.
Dabei boomt der Sport. Zumindest der Fußballverband kann einen Anstieg bei den jüngsten Mitgliedern verbuchen, von den siebenjährigen Buben sind 79 Prozent in einem Sportverein organisiert. „Die Zahlen aber gehen während der Grundschulzeit stetig runter“, die meisten Sportarten bekommen Probleme, und auch im Fußball überdecken vor allem Migranten das drohende Loch.
Kinder im Stress
„Das Spiel ist so wichtig für die frühkindliche Entwicklung“, betont Ben Furman, angesehener Psychiater und Buchautor aus Helsinki, „aber die Kinder haben kaum mehr Zeit dafür.“ Kinder im Stress, Alarmismus oder korrekte Diagnose, lautete das Thema einer Podiumsdiskussion während der Tage in Bad Griesbach. „Die Kinder verlernen die Freude am Spiel“, fürchtet Dorothée Remmler-Bellen, dabei würde, wie der Sozialpädagoge Andreas Cezanne feststellt, „gerade Bewegung gegen Stress helfen, hundertprozentig.“ Viel zu früh aber erliegen die Kids dem ungebremsten Medienkonsum, der daraus resultierende Bewegungsmangel führe in Verbindung mit falscher Ernährung nicht nur zu Fettleibigkeit, „auch die schulischen Leistungen gehen zurück“, weiß Majken Bieniok.
Diese These kann Klaus Bös mit Fakten untermauern. Eine Schule in Bad Homburg hat die tägliche Sportstunde eingeführt, Bös und seine Mitarbeiter verglichen die Auswirkungen mit einer „normalen“ Kontrollschule. Nach vier Jahren kamen die Sportwissenschaftler zu dem Schluss, dass die motorische Leistungsfähigkeit deutlich verbessert wurde, ein spürbarer Abbau von Aggression und Gewaltbereitschaft sowie eine Zunahme von Toleranz und Rücksichtnahme erkennbar wurde und die Schüler dem restlichen Unterricht aufgeschlossener gegenüberstanden als ihre Kollegen. „Schulunlust haben wir bei 70 Prozent der Schüler der Kontrollschule, aber nur bei 24 Prozent an der Modellschule registriert“, so der Sportwissenschaftler Bös, die „bewegte Schule“ habe auch zu einer deutlichen Verbesserung der Konzentration geführt.
„Bewegung hat nicht nur Auswirkungen auf die körperliche Leistungsfähigkeit, sondern trägt auch in einem erheblichen Maß zu einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung bei“, mit dieser Feststellung rennt Bös bei den Tagungsteilnehmern offene Türen ein. Wie aber erreicht man die, die es am meisten interessieren sollte, die Eltern? Es habe sich schon was getan in den letzten Jahren, anerkennt Bös, der schleichende Verlust der Leistungsfähigkeit habe „durch viele eingeleitete Maßnahmen“ wenigstens gestoppt werden können, auf niedrigem Niveau allerdings im Vergleich zu den Leistungen früherer Kinder. Zur Verbesserung der Situation aber seien nun alle gefordert, Eltern, Schulen, Kommunen, Vereine.
Begeisterung wecken
Was ist zu tun? Bös fordert weiter beharrlich die tägliche Sportstunde in den Grundschulen, ein „Riesenproblem“ aber sei, qualifizierte Lehrkräfte zu finden, die „Freude und Spaß am Sport vermitteln und zu lebenslangem Sporttreiben anregen“, die „Begeisterung wecken“ können, wie es der Hirnforscher Gerald Hüther fordert. Vereine müssten „Sport für alle“ anbieten, Kinder- und Jugendkonzepte entwickeln, Bindung schaffen, um das unsinnige „Vereinshopping“ zu verhindern. Kommunen sollten Schulwege so sicher machen, dass die Kinder nicht zwingend mit dem Auto gefahren werden müssten, attraktive Spielplätze müssten geschaffen werden. Und Eltern sollten Vorbilder sein, gemeinsame Aktivitäten unternehmen und den Sport ihrer Kinder unterstützen.
Es ist höchste Zeit. Die bittere Realität nämlich sieht anders aus. Thomas Bodmer, Vorstandsmitglied der DAK-Gesundheit, hatte zu Beginn des fit4future-Kongresses auf den gerade veröffentlichten Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO hingewiesen, nach dem weltweit mehr als 124 Millionen Kinder extrem dick sind. Die Zahl fettleibiger Kinder und Jugendlicher hat sich demnach in vier Jahrzehnten verzehnfacht, „erschütternd“, so die WHO. „Noch auf dem Gymnasium muss man den Kindern heute Motorik vermitteln“, sagt Bodmer und betont, wie wichtig gerade deshalb ein Projekt wie fit4future sei, das sein Unternehmen gemeinsam mit der Cleven-Stiftung maßgeblich unterstützt. „Das ist der richtige Weg, fit4future hat den ganzheitlichen Ansatz“, Bewegung, Ernährung, Brainfitness und Verhältnisprävention bilden hier eine Einheit, zum Wohle der heranwachsenden Generation.“
Nicht früh genug, das wurde in den Tagen von Bad Griesbach deutlich, kann man gegensteuern und damit anfangen, den Kindern einen gesunden Lebensstil zu vermitteln, gerade das Vorschulalter ist dabei prägend, „Gesundheitsbildung beginnt ab Geburt“, sagt Eva Reichert-Garschhammer. Oft aber sind Eltern gerade aus zeitlichen Gründen gar nicht in der Lage, ihren Kindern ausreichend das zu geben, was sie in den ersten Lebensjahren so dringend bräuchten, Fürsorge, Aufmerksamkeit, soziale Eingebundenheit, Balance. Auch deshalb kommt den Kitas eine so große Aufgabe zu. Dass viele dieser Verantwortung immer mehr gerecht werden, zeigten die spannenden Projekte, die in Bad Griesbach vorgeführt und mit dem fit4future-Award ausgezeichnet wurden. Hier wusste jeder, dass es kurz vor Zwölf ist, will man eine gesunde Entwicklung fördern, für den Körper und den Geist.
Mag sein, dass Klaus Bös wieder vor den falschen Leuten gesprochen hat. Die Hoffnung aber lebt, dass er über Multiplikatoren auch die erreicht, die sehr, sehr nachdenklich werden sollten.