Leipzig – Das Summen klang nach einem Smartphone, Joshua Kimmich aber grinste, als er entschuldigend seinen Kulturbeutel durchkramte. Er wusste, dass da ein anderes Gerät seine Analyse der Pokalpartie gegen Leipzig störte. „Ist mein Rasierer“, sagte er, als er den Apparat herausfischte und hurtig ausknipste. „Sorry, wo war ich?“ Er hatte gerade Sven Ulreich gelobt.
Dass der FC Bayern am Mittwochabend RB Leipzig, nunja, rasiert habe, wäre ein bisschen zu sehr an den Haaren herbeigezogen. Allerdings hatten die Münchner das bessere Ende auf ihrer Seite, was nicht zuletzt ihrem Torwart zu verdanken war. Als Kimmich seine technischen Probleme gelöst hatte, fuhr er mit seiner Lobrede fort. Er habe sich für den Kollegen besonders gefreut, sagte der Verteidiger, „Sven steht nach der Verletzung von Manuel Neuer im Fokus und hat nach den Spielen gegen Wolfsburg und Paris öffentlich viel abbekommen.“ In der Mannschaft genieße er weit mehr Vertrauen als im Umfeld, versicherte der 22-Jährige, „er hat uns schon im Sommer im Supercup gegen Dortmund im Elfmeterschießen gerettet und jetzt hat er es wieder geschafft.“ Kimmich hätte vermutlich noch mehr nette Worte über seinen Schlussmann gefunden, nur hupte dann der Mannschaftsbus zwei Mal. Er war als Letzter aus der Kabine gekommen und musste nun los. Die Bayern wollten abfahren, und wenn der Busfahrer hupt, ist das schwerer zu regeln als ein irregelaufener Rasierer.
Die Botschaft, dass man intern auf Sven Ulreich nichts kommen lässt, war ja trotzdem angekommen. An dem 29-Jährigen scheiden sich außerhalb der Münchner Reihen die Geister. Sein Fehlgriff gegen Wolfsburg hatte neulich zwei Zähler gekostet, in Paris fehlte vielen die Autorität, die ein Torwart des FC Bayern in einem internationalen Spitzenspiel ausstrahlen sollte. Als Ulreich vor einem Jahr auf der USA-Reise Neuer abwechselnd mit Tom Starke vertrat, ließ er beim 0:1 in New York gegen Real Madrid einen haltbaren Danilo-Schuss passieren, und im Elfmeterschießen gegen den AC Mailand hüpfte er in Chicago in seinem grünen Arbeitsdress wie ein Grashüpfer herum. Das Fazit damals: Neuer dürfe niemals etwas zustoßen, sonst hätte Bayern ein Problem. Doch inzwischen wächst Ulreich mit den Aufgaben, die sich ihm stellen.
Vom Grashüpfer zum Elfmeterhelden – und mehr als das, denn Ulreich hatte in Leipzig nicht nur wegen der finalen Parade gegen Timo Werner eine beachtliche Pokalnachtschicht hingelegt. Er hielt die Münchner bereits in den 120 Minuten zuvor einige Male in der Partie, mit durchaus tollen Reflexen. „Er hat jetzt viel mehr Sicherheit und Stabilität“, attestierte Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge, „seit Jupp da ist.“ Heynckes habe der etatmäßigen Nummer 2 den Glauben an sich selbst vermittelt, so der Klubboss, „das zahlt er dem Trainer jetzt zurück“. Rummenigge hatte beim letzten Elfmeter genau hingesehen und die Feinheiten daran erkannt: „Sven hat dem Schützen die linke Seite aufgemacht – und dann hat er den Ball gehabt. Das war ein richtiger Big Point, den er da heute für uns geholt hat.“
Obwohl alle auf eine rasche Genesung von Neuer hoffen – laut Rehaplan ist sein Comeback zum Jahresanfang anvisiert –, hat Ulreich in Leipzig den nächsten Schritt gemeistert, die Zweifel an ihm abzuarbeiten. In großen Vereinen wird von den Torhütern verlangt, dass auch sie mal in der Lage sind, ein Spiel zu gewinnen. Der Triumph am Mittwochabend gehörte zu einem großen Teil Sven Ulreich. Es ginge wohl zu weit, zu sagen, mit ihm könne man die Gegner rasieren. Aber man kann sich mit ihm sehen lassen.