München – Die Jahre, so scheint es, sind fast spurlos an Claudia Pechstein vorübergegangen. Noch immer dieser kesse Blick, die wachen Augen. Rank und schlank und muskulös ist sie, die Körperhaltung unter Spannung. Die 45 Jahre sieht man ihr nicht an. Auch wenn sie selbstironisch meint: „Ich hab’ halt die entsprechenden Altersleiden – das Aufstehen ist nicht mehr wie vor 20 Jahren.“
Auf dem Eis aber bewegt sie sich mit unverminderter Schnelligkeit. Die Berlinerin steuert ihre bereits siebten Olympischen Winterspiele an, und dass sie schon ziemlich gut drauf ist, demonstrierte sie am vergangenen Wochenende bei den Deutschen Meisterschaften in Inzell. Drei Titel errang Pechstein. Ihr Befund zur vorolympischen Form: „Sehr zufrieden.“ Auf den Einzelstrecken, so betont Bundestrainer Jan van Veen, werde Pechstein bei den Winterspielen 2018 in Pyeongchang die einzige deutsche Frau mit Medaillenchancen sein.
Um ihr phänomenales Stehvermögen auf Weltklasseniveau richtig zu begreifen, bedarf es eines Blicks in die Annalen. Dort taucht Pechstein anno 1992 zum ersten Mal als Medaillengewinnerin auf: Bei Olympia in Albertville gab’s Bronze. Damals war ein Teil ihrer heutigen Rivalinnen noch gar nicht geboren. 1994 holte sie in Lillehammer ihre erste von fünf Goldmedaillen. Bei Weltmeisterschaften sammelte Pechstein 41 Plaketten. Tschechiens dreifache Olympiasiegerin Martina Sablikova, 30, meinte erst dieser Tage: „Claudia war immer mein Vorbild.“
Über 25 Jahre ist Pechstein also schon unterwegs auf den Eisovalen dieser Welt. Und immer noch ist nicht absehbar, wie lange sie ihre Runden drehen wird. Auch weil sie offenbar von einer inneren Kraft angetrieben wird, deren Quellen sich ungefähr so zusammenfassen lassen: Wut, Verbitterung, der bohrende Schmerz, ungerecht behandelt worden zu sein.
2009 war Pechstein aufgrund einer wissenschaftlich umstrittenen Blutanomalie vom Weltverband ISU für zwei Jahre gesperrt worden. Eine Doping-Strafe, die sie bis heute nicht akzeptiert. Die Sportlerin zog vor die verschiedensten Gerichte, forderte Schadensersatz, ging durch alle Instanzen. Ohne Erfolg. Zu persönlichen Feinden hat sie die hohen Funktionäre der ISU erklärt. Über ihre Unverdrossenheit, immer weiter zu laufen, immer wieder die sportliche Herausforderung zu suchen, sagt sie: „Die größte Motivation gibt mir die ISU. Ich habe da einen Kampf zu führen, der mittlerweile fast neun Jahre dauert. Das ist Motivation pur für mich, wenn ich bei Weltmeisterschaften oder im Weltcup auf dem Podium stehe und mir die ISU die Medaille umhängen muss.“ Zuletzt durfte sie sich im Februar diesen Jahres in Gangneung/Südkorea mit WM-Silber über 5000 Meter dekorieren lassen. In Inzell wurde Pechstein gefragt, ob sie dieser kleine Revanchegedanke bei allen großen Wettkämpfe begleite. Ihre korrigierende Antwort: „Es ist kein kleiner, sondern ein großer Revanchegedanke.“ Wobei sie noch hinzufügt: „Das Motto: Siegen oder Sterben – das ist definitiv mein Weg. Das werde ich niemals aufgeben.“
Im deutschen Eisschnelllauf galt Pechstein, die sich einst auch mit ihrer Rivalin Anni Friesinger zänkische Gefechte geliefert hatte, lange Zeit als streitbar Einzelgängerin. Dieses Image hat die 45-Jährige spätestens in diesem Jahr abgelegt, indem sie sich engagiert in das Training für die Teamverfolgung einfügte. Bundestrainer van Veen sieht im Mannschaftswettbewerb gute Chancen auf Edelmetall. Weswegen sich die deutschen Frauen – mit Pechstein – zuletzt auf diese Disziplin konzentrierten. „Wenn Claudia zu uns gekommen ist, hat das sofort harmonisiert. Bei uns gibt es keine Egomanen, sondern wir sind ein Team“, sagt Gabi Hirschbichler, die zusammen mit Roxanne Dufter, Isabelle Ost und Michelle Uhrig für das Team-Projekt ausgewählt wurde. Pechstein meint zum gemeinsamen Training: „Wir haben einen guten Schritt gemacht.“
In Pyeongchang wird die Unverwüstliche ihren 46. Geburtstag feiern. Sie will sich dabei selbst beschenken: „Natürlich wäre es toll, eine Medaille zu holen.“ Ob dann endlich Schluss sei? Pechstein lächelt. Und sagt: „Ich kann mir natürlich vorstellen, bei den Olympischen Winterspielen 2022 dabei zu sein.“ Es ist ihr zuzutrauen.