Zhuhai – Im ersten Spiel 2017 spielte Angelique Kerber in Brisbane gegen die Australierin Ashleigh Barty. Sie gewann in drei Sätzen, wirkte aber bei weitem nicht so überzeugend wie im Jahr zuvor. Dabei war natürlich von Beginn an klar, dass ihr alle Vergleiche wie schwere Gewichte auf den Schultern liegen würden. Wie sollte sie das wiederholen? Drei Titel (Australian Open, Stuttgart, US Open) dazu fünf Finals (unter anderem in Wimbledon, bei den Olympischen Spielen in Rio und zum Abschluss bei den WTA-Finals in Singapur), im September der Sprung an die Spitze der Weltrangliste – das war eine funkelnde Sammlung von Erfolgen, wie man sie im Frauentennis der Gegenwart nur von Serena Williams kannte. Kerber stand auf dem Mount Everest, und es war klar, dass es nicht weiter nach oben gegen würde.
Im letzten Spiel 2017 hatte es die Kielerin am Donnerstag in Zhuhai/China wieder mit Ashleigh Barty zu tun, die zu den Aufsteigerinnen der Saison gehört. Sie verlor glatt in zwei Sätzen, schied damit nach der Vorrunde der so genannten WTA Elite Trophy aus, für die jene Spielerinnen qualifiziert sind, die in der Weltrangliste auf den Plätzen 9 bis 20 stehen. Kerbers Bilanz nach diesem letzten Spiel: Kein Titel, ein verlorenes Finale (Monterrey), weniger als halb so viele Siege wie 2016 (29:63). Angesichts der massiven Summe von Punkten, die sie in der Weltrangliste aus dem grandiosen Lauf von 2016 zu verteidigen hatte, ist es kaum verwunderlich, dass sie nach den Auftritten 2017 an Boden verlor. Ob sie in der letzten Rangliste des Jahres am kommenden Montag noch zu den besten 20 gehören wird, hängt von Julia Görges ab, die heute in Zhuhai im Spiel gegen die Französin Kristina Mladenovic nur einen Satz gewinnen muss, um im Halbfinale zu landen und damit ihren Platz vor Kerber zu sichern.
Barbara Rittner, Bundestrainerin und Chefin des deutschen Frauentennis, hatte vor ein paar Tagen zu den Chancen zur Kurskorrektur von Kerber im kommenden Jahr gesagt: „Sie sollte die Jahre 2016 und 2017 am besten komplett ausblenden – das waren zwei extreme Saisons. An 2016 darf sie sich nicht messen, sondern sollte lieber an die vielen Jahre davor denken, in denen sie konstant in der Weltspitze mitgespielt hat. Wenn sie an sich glaubt und weiter hart arbeitet, wird sie sich zurückkämpfen. Auf der Damentour ist derzeit vieles möglich. Das sollte ihr Mut machen.“
Wenn man weiß, wie intensiv Kerber bisweilen grübelt, dann ist klar, dass die Sache mit dem Vergessen nicht so einfach werden wird. Vielleicht ist die Pause bis zu den ersten Spielen 2018 lang genug, um alle Speicher aufzuladen, um sich neu zu sortieren und Kritik anzunehmen, von wem sie auch kommen mag. Es gibt ja Beispiele zur Inspiration. Caroline Wozniacki, ehemals Nummer eins ohne Grand-Slam-Titel, danach abgerutscht und vom Leben nicht nur verwöhnt, steht Ende 2017 wieder auf Platz drei der Weltrangliste in Sichtweite der an der Spitze stehenden Simona Halep. Und im etwas kleineren Maßstab könnte sie sich auch an Görges orientieren, die bereit war, neue Wege zu gehen, als sie auf den alten nicht mehr vorwärts kam. So wie Kerber selbst auch schon mal vor vielen Jahren. Manchmal ist es ja die eigene Geschichte, die zur Inspiration taugt.