London – Die Tür der deutschen Kabine in den Katakomben von Wembley ging auf, und heraus trat, reichlich unvermittelt: Per Mertesacker. Der Hüne latschte an den wartenden Reportern vorbei, steuerte den DFB-Bus an, es sah alles so aus, als hätte er gerade einen Arbeitstag auf dem Rasen hinter sich, als wäre er frischgeduscht nach dem 0:0 gegen England, auch sein Laufweg passte zu dem der Spieler, die der Reihe nach Richtung Feierabend folgten. Aber Per Mertesacker als Aktiver beim DFB ist freilich längst Geschichte.
Der Kapitän des FC Arsenal war allerdings am Samstag gefragt; er fungierte in seinem inoffiziellen Nebenjob als Stadtführer und zeigte den deutschen Nationalspielern die Sehenswürdigkeiten Londons. Zu Fuß ging es vom Hotel zur U-Bahn, dann zwei Stationen zum Westminster Pier, von dort in Schnellbooten über die Themse und zum Schluss auf eine Fahrt im Riesenrad „London Eye“. Mats Hummels, der mit seiner Brille wie ein Student beim Austausch aussah, hatte die Aktion bereits am Vorabend begrüßt: „Ich war schon 100 Mal in London und habe noch nie was gesehen; immer nur Flughafen, Bus, Hotel, Stadion, Bus, Flughafen und weg.“ Diesmal blieb mehr hängen. Zumindest aus dem Blickwinkel des Touristen.
Fußballerisch war es hingegen schwer, Erkenntnisse aus dem Trip in die britische Metropole herauszufiltern. Als die Spieler aus den Glaskugeln des „London Eye“ hinausschauten, war die Sicht vernebelt. Der „Big Ben“ gegenüber ist zudem gerade von einem mächtigen Gerüst umgeben; in beides lassen sich Parallelen zur aktuellen Situation von Joachim Löw hineininterpretieren: Er sieht noch nicht klar und hat viel zu konstruieren.
Das Testen des Personals, sagte der Bundestrainer, sei ihm derzeit wichtiger als das Ergebnis. Das 0:0 vom Freitag habe ihn „jetzt auch nicht vom Hocker gerissen“, gab er zu, vor allem die zweite Hälfte sei „ein bisschen dahingeplätschert“. Aber mit Tests im November ist es traditionell so: Sie liefern kurzfristig wenige Erkenntnisse, beim Blick aufs große Ganze dann aber sehr wohl. Man muss nur gut genug hinschauen.
Löw registrierte, dass Leroy Sane und Timo Werner auch gegen größere Kaliber immer mehr zu echten Optionen reifen. Er notierte zudem, dass er Mats Hummels eine Dreierkette beruhigt befehligen lassen kann, selbst wenn sein Partner Jerome Boateng ausfällt. Und ganz vielleicht strich er sogar das Fragezeichen hinter der Russland-Reife des Leipzigers Marcel Halstenberg. Es sind die kleinen Erkenntnisse, die im Londoner Nebel zählten. „Der Feinschliff wird dann sowieso erst im Trainingslager vor der WM gemacht“, sagte der Bundestrainer.
Wichtig ist in diesen Tagen, die Belastung der Spieler in Grenzen zu halten. Vor dem morgigen Duell mit Frankreich in Köln (20.45 Uhr/ARD) lässt Löw rotieren. Toni Kroos und Sami Khedira rücken in die Startelf, kündigte der Bundestrainer an, auch Mario Götze solle sich von Beginn an zeigen: „Wir haben eine kurze Winterpause, und wir wollen die Spieler nicht über die Plätze jagen, wir brauchen in Russland im Sommer ein topfittes Team.“
Frankreich stuft Löw stärker als die Briten ein, das 0:2 im Halbfinale der EM gegen die „Equipe Tricolore“ wirkt noch nach. Seit 20 Spielen sind die Deutschen nun bereits unbesiegt, die Serie soll im letzten Ländervergleich im Jahr 2017 nicht reißen. „Wir haben Heimspiel, es ist unser Jahresabschluss, das wollen wir nicht mit einer Niederlage ausklingen lassen“, sagte der Leipziger Timo Werner. Dass das 0:0-Vorspiel in Wembley wenig berauschend war, irritierte ihn dabei nicht: „Wir müssen nicht traurig sein, unser Spiel war okay.“ Auch wenn es phasenweise so wirkte wie zu einer Zeit, als Mertesacker noch kickte.
Er und Christoph Metzelder hatten einst den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Schnarch und Schleich“. Aber das ist lange her. Bevor Mertesacker Fremdenführer wurde, wurde er ja auch noch Weltmeister.