London – An einem kalten Novemberabend um sechs Minuten nach zehn am Abend endete das Tennisjahr 2017 für Alexander Zverev, und natürlich tat er sich nicht leicht, die ziemlich frustrierende Art dieses Abschieds zu akzeptieren. Nach den ersten beiden Spielen der Vorrunde hatte er sich große Hoffnungen gemacht, mit einem Sieg gegen den Amerikaner Jack Sock im Halbfinale des Turniers der Meister in London zu landen. Doch nach einer Niederlage in drei Sätzen stellte er ernüchtert fest, er habe das Spiel verzittert. Ende, aus. Schlussstrich. Mist.
Im Tennis brauche man ein Kurzzeitgedächtnis, behauptet Zverev gern, und dieser Maxime folgend könnte es einerseits nicht schaden, wenn er die letzte Partie 2017 schnell vergäße. Vielleicht hatte er sich nach einer Steigerung in den ersten beiden Spielen der Vorrunde in stabiler Verfassung gesehen, und vielleicht erkannte er im dritten Satz mit zunehmender Nervosität, dass dem doch nicht so war. Im Gegensatz zu Sock, der zu Beginn des Monats noch keine Ahnung gehabt hatte, dass er sich überhaupt für die ATP Finals qualifizieren würde und für den jeder Sieg in dieser Woche einfach ein Bonus ist, kämpfte Zverev mit der Last, einen besonderen Schlusspunkt unter ein fantastisches Jahr zu setzen. Sock findet, der junge Kollege aus Deutschland müsse sich nichts vorwerfen. „Der Typ ist 20 Jahre alt. Er ist noch zu jung, um in den USA offiziell Bier trinken zu dürfen, und ist schon Nummer drei.“
Eine Sicht der Dinge aus dem inneren Zirkel trug der Spanier Juan Carlos Ferrero bei, seit Sommer als zweiter Coach neben Zverevs Vater Alexander senior im Team. Der sagt: „Es war ein sehr wichtiges Jahr für Sascha. Es kam sehr schnell großes Lob, und manchmal tut er sich schwer, damit umzugehen. Teil meiner Aufgabe ist es, ihm mehr Gleichgewicht zu geben und zu verhindern, dass er gleich auskeilt, wenn die Dinge nicht so laufen, wie er sich das vorstellt. Die Erfahrung hier aus London wird sehr nützlich sein; er wird lernen, sich bei solchen Turnieren zu bewegen, und das ist wichtig für seine Entwicklung.“
Roger Federer sieht die Sache ähnlich. Vor ein paar Tagen sagte er, der junge Kollege werde die ATP Finals mit vielen Informationen verlassen, egal, ob nach dem Halbfinale oder vorher. „Ich denke, die letzten sechs Monate geben ihm alle Erkenntnisse, die er braucht. Und danach wird er noch stärker sein.“
Zverev wird sich sicher mit der Frage beschäftigen müssen, was zu tun ist, um auch in der zweiten Hälfte des Jahres gut in Form zu sein. Diesmal, das gibt er zu, habe das nicht geklappt. Das Ende sei absoluter Murks gewesen, hätte er während des ganzen Jahres so gespielt, wäre er nicht unter den Top 50 gelandet. Nach seinem zweiten Sieg in bei einem Masters-1000-Turnier Mitte August in Montreal gewann er auf der ATP Tour in den drei folgenden Monaten nur noch neun Spiele, allerdings zwischendurch auch gebremst von einer Magen-Darm-Infektion während des Turniers in Wien.
In gewisser Weise kam ihm dabei der eigene Erfolg in die Quere. Weil er so oft gewann, machte er in Einzel und Doppel auf der Tour, beim Davis Cup, beim Hopman Cup und beim Laver Cup insgesamt mehr als 100 Spiele – damit rund 20 mehr als Rafael Nadal und 30 mehr als Roger Federer. Die Aufgabe im kommenden Jahr wird darin bestehen, den Turnierplan seinem Spitzenniveau anzupassen, und das bei kürzerer Vorbereitungszeit.
Fitnesscoach Jez Green legte in den vergangenen Jahren größten Wert auf ein fünfwöchiges Aufbautraining völlig ohne Tennis, aber er weiß schon lange, dass daraus diesmal nichts werden wird; viel mehr als drei Wochen im Dezember werden wohl nicht übrig bleiben.
Aber jetzt steht für das ganze Team erst mal Urlaub auf dem Programm. Demnächst wird Alexander Zverev auf den Malediven seinen neuen, hellblauen Anzug für die Hochzeit seines Bruders Mischa aus dem Koffer holen. Der ältere Zverev hatte in der vergangenen Woche in Köln standesamtlich geheiratet, alles weitere wird in Kürze am Strand unter Palmen stattfinden. Im winterkalten London jedenfalls, wo an diesem Samstag die Halbfinals anstehen, freuen sich alle darauf, den jüngsten und hoffnungsvollsten Spieler der Elite im kommenden Jahr wiederzusehen. Zuerst im Sommer auf dem Rasen von Wimbledon und in zwölf Monaten in der blau beleuchteten O2 Arena.