Es hat sich was verändert in der Welt des Sports, und was genau, das erläutert eine Tabelle, die der Blogger Jens Weinreich, spezialisiert auf Sportpolitik, erstellt hat: Wo die Großereignisse des Sports (Olympische Spiele, Weltmeisterschaften in den wichtigen Disziplinen) von 1980 bis 2010 ausgetragen wurden und wo in den Jahren seitdem.
Im ersten Zeitraum war Deutschland der zweitwichtigste Sportveranstalter der Welt, richtete in drei Jahrzehnten 193 der großen Events aus, übertroffen nur von den USA (324), gefolgt von Japan (189). Doch nun spielt Deutschland keine Rolle mehr, im Ranking seit 2010 ist es lediglich Zwölfter. Die Reihung vorne: 1. Russland, 2. Brasilien, 3. Großbritannien. Auch das umstrittene Wüstenemirat Katar (7.) hat sich vor die Deutschen geschoben.
Professor Jürgen Mittag von der Sporthochschule Köln verweist auf diese Liste von Jens Weinreich, wenn er über den Themenkomplex „Vergabe internationaler Sportevents“ referiert. Er stellt dazu seine drei Thesen in den Raum. Sport hat einen Bedeutungszuwachs erfahren, er hat sich globalisiert, er hat die Funktion einer Bühne. Alles hochpolitisch geworden, nicht nur die Sportszene schaut hin, sondern auch: kritische Regierungen und Medien, die UN, Organisationen wie Human Rights Watch. Im Vorfeld der sportlichen Großereignisse ist die Berichterstattung immer eine politische. „Während des Ereignisses“, sagt Professor Mittag, „nimmt das dann allerdings ab“. Und es geht traditionell darum, wer die meisten Medaillen gewinnt.
Für viele Länder ist es nach wie vor wichtig, sich mit einem Großereignis Reputation zu verschaffen, es sind nun eben andere Länder als noch vor einigen Jahren. Viele, eigentlich fast noch alle, investieren auch in Erfolge im Medaillenspiegel. Doch ist es wirklich so, dass sportliche Erfolge einem Land zu internationalem Prestige verhelfen?
Wenn ein nationaler Sportverband in Deutschland mit der Dachorganisation, dem DOSB (Deutscher Olympischer Sportbund), seine Zielvereinbarung abschließt und definiert, was er an Medaillen und Platzierungen in nächster Zeit zu erreichen gedenkt, steht am Ende des Papiers immer der Satz, dass der Verband „zum Ansehen der Bundesrepublik Deutschland beiträgt“. Tatsächlich?
Jan Haut vom Institut für Sportwissenschaften an der Frankfurter Goethe-Universität hat sich explizit mit diesem Thema befasst. Er zitiert aus einer Studie der Deutschen Sporthilfe, einem der wichtigsten Spitzensport-Förderer in Deutschland mit jährlich 13 Millionen Euro: Im Jahr 2011 waren noch 78 Prozent der Meinung, „dass Medaillen wichtig für das internationale Ansehen sind“. Die Zahl von 2016 dagegen; 60 Prozent. Ein klarer Rückgang also.
Umfrage: An welche Olympia-Ereignisse man sich erinnert
Jan Haut und seine Mitarbeiter haben rund um die Olympischen Spiele von Rio de Janeiro 2016 eine Befragung durchgeführt, international, mehrsprachig, unter mehrheitlich männlichen und gebildeten Sportinteressenten, 710 Teilnehmer, 106 mit einer anderen Staatsangehörigkeit als der deutschen. Was bei den Olympischen Spielen hat Sie positiv beeindruckt, was negativ?
Das Meinungsbild unter den Deutschen: Viele Positiv-Nennungen für Robert Harting, obwohl der im Diskuswerfen keine Medaille mehr gewann, für Schwimm-Rekordsieger Michael Phelps, für Sprintstar Usain Bolt, für den Turner Andreas Toba, der trotz eines Kreuzbandrisses im Dienste der Mannschaft noch einmal ans Gerät ging. Aber auch die Rugby-Helden von den Fidschi-Inseln und die 5000-Meter-Läuferinnen Nikki Hamblin (USA) und Abby D’Agostino (Australien), die in ihrem Rennen kollidierten und sich sportlich-freundschaftlich wieder auf die Beine halfen. Jan Hauts Fazit: „Nicht einfach erfolgreiche Athleten werden positiv bewertet, sondern auch Typen, Underdogs, Superstars, aufrechte Verlierer, Gesten der Fairness.“
Negative Eindrücke: Russland, Doper, China, Kenia; auch Usain Bolt wurde hier genannt, weil ihn manche halt auch für dopingverdächtig halten. Mit Christoph Harting, der bei der Siegerehrung herumhampelte und Interviews verweigerte, wurde sogar ein deutscher Olympiasieger schlecht bewertet. Ebenso wie US-Schwimmer Ryan Lochte, der in Rio an einer Tankstelle randalierte und anschließend die Geschichte erfand, überfallen worden zu sein.
Haften bleibe also, so Jan Haut, Unsportlichkeit, Arroganz, die Erfolg-um-jeden-Preis-Mentalität. „Andere Nationen und sonstige Kollektive werden eher negativ gesehen.“
Und wie fallen die Ergebnisse bei der Befragung der 106 Nicht-Deutschen aus, von denen 84 Kolumbianer waren? „Die Muster sind ähnlich“, so Jan Haut. Kritisch bewertet wurden Russland, China, Doper, positiv internationale Superstars (Phelps, Bolt) und nationale Stars. Im kolumbianischen Fall: die BMX-Radlerin Mariana Pajon, die Dreispringerin Caterine Ibargüen und der Gewichtheber Oscar Figueroa. Deutsche Athleten wurden nicht genannt.
Äußern sollten sich die Teilnehmer der Umfrage auch dazu, was sie aus dem Medaillenspiegel und der sportlichen Potenz eines Landes ableiten würden – auf einer Skala von 1 (stimme überhaupt nicht zu) bis 5 (stimme voll und ganz zu). Den mit Abstand höchsten Wert erzielte die Aussage „ist nicht besser oder schlechter“ (3,73). Das ist deutlich mehr als „ist auch außerhalb des Sports sehr leistungsfähig“ (2,77), „erzeugt hochwertige Wirtschaftsprodukte“ (2,40), „ist mir sympathisch“ (2,56). Gegenüber erfolgreichen Ländern entwickelt man „bestenfalls eine neutrale Haltung“, so Sportwissenschaftler Haut, „der Medaillenspiegel ist eher relevant für die eigene Bevölkerung denn für die internationale Wahrnehmung“.
Die EM 2016 – und wie sie sich aufs Leben ausgewirkt hat
Was Jan Haut schlussfolgert: „Erfolg ist nicht gleich Prestige. Nur spezielle Fälle bleiben in Erinnerung und eher die eigenen als die ausländischen Athleten. Bloßer Medaillenerfolg hat kaum positiven Einfluss auf internationales Prestige – aber illegitime Praktiken und Haltungen prägen das Image!“
Auch im jährlich erstellten „Nations Brand Index“, der das globale Ansehen von Nationen bewertet, sind sportliche Leistungen nur ein Randaspekt. Prägender für das Image eines Landes sind die Leistungen in Wissenschaft und Technologie, die Willkommenskultur, die Menschenrechtssituation, gesellschaftliche Gerechtigkeit.
Doch im jeweiligen Land trägt der Erfolg, den es im Sport hat, durchaus zum Nationalstolz bei. Zumindest vorübergehend.
Schon während der Fußball-WM 2006 gab es Erhebungen zur Gefühlslage der Deutschen. Vor Turnierbeginn gaben 20 Prozent an, stolz zu sein. Der Wert stieg mit den Siegen und dem Weiterkommen bis auf 46 Prozent an, nach dem Ausscheiden im Halbfinale war er bei 28 Prozent, einen Monat nach der Sommermärchen-WM wieder zurück bei 20 Prozent, dem Ausgangswert.
Zehn Jahre später bestätigt sich diese Kurve in einer Untersuchung von Michael Mutz von der Justus-Liebig-Universität Gießen. „Macht Fußball glücklich und wenn ja, wen?“, so hat er sie plakativ benannt. Untertitel: „Die Lebenszufriedenheit in Deutschland rund um Fußball-Europameisterschaft 2016“.
Die Theorie besagt, dass singuläre Ereignisse die allgemeine Lebenszufriedenheit beeinflussen können. Die Freude, die man erlebt als Kontrast zu einem kontrollierten Alltag, die Geselligkeit beim Fußballschauen, die Selbstwertstärkung, wenn „wir“ gewinnen – tut gut.
Mutz hatte während des Studienzeitraums von Mai bis September 2016 insgesamt 853 Probanden, sie ergaben einen bundesrepublikanischen Querschnitt nach Alter und Fußballinteresse, das Meinungsforschungsinstitut infratest dimap war involviert. Die Frage, die gestellt wurde, lautete schlicht: „Wie zufrieden sind Sie – alles in allen – mit Ihrem Leben?“
Die Zufriedenheit stieg zur EM an, und sie war stärker bei jenen, die sich als fußballinteressiert auswiesen und das letzte Spiel im Fernsehen verfolgten. Allerdings: Zwei Monate nach der EM, bei der abschließenden Befragung im September 2016, war die Stimmungslage wieder annähernd so wie im Mai. Der Anstieg der Zufriedenheit während der EM war laut Forscher Mutz „messbar und signifikant, aber im Durchschnitt schwach“, die großen Veränderungen fanden nur „bei fußballaffinen Personen statt, bei allen anderen nicht“, und zwei Monate danach „war der Effekt verpufft“.
„Großereignisse haben das Potenzial, die Zufriedenheit eines ganzen Landes zu verändern“, findet Michael Mutz. „Die Zufriedenheit taugt aber wenig als Legitimation für Großereignisse, da die Effekte nicht länger anhaltend sind.“