Engelberg – Beschert hat sich Richard Freitag mit drei Weltcup-Siegen an den vergangenen drei Wochenenden schon, Weihnachten kann also kommen. Trotzdem denkt die Nummer 1 der Skisprung-Welt schon an die Zeit nach den Feiertagen. „Fühlt sich gut an, mit dem Gelben Trikot zur Vierschanzentournee zu fahren“, schreibt der neue deutsche Überflieger bei Facebook. Freitag ist spätestens nach seinem Triumph bei der Tournee-Generalprobe im schweizerischen Engelberg großer Favorit auf den Sieg beim Skisprung-Grand-Slam. Den letzten deutschen Gesamtsieg gab es dort vor 16 Jahren durch Sven Hannawald, der 2001/2002 als einziger Springer aller Zeiten alle vier Tourneespringen gewinnen konnte.
Freitag ist in Erlabrunn im gleichen Krankenhaus wie der legendäre Grand-Slam-Sieger Hannawald und wie Jens Weißflog (mit vier Tournee-Gesamtsiegen deutscher Rekordhalter) geboren. Natürlich wäre es eine tolle Geschichte, wenn der Sachse diese spezielle Tradition fortsetzen könnte. Aber ein Selbstläufer ist das für den 26- Jährigen auch nach der besten Phase seiner Karriere nicht. „Es gibt keine Garantie dafür, wenn du vorher gut bist, dass es bei der Tournee dann auch klappt“, sagt Freitag: „Ich bin ja schon mal mit einem Weltcup-Sieg in Engelberg zur Tournee gefahren.“
2014 war das – und am Ende landete Freitag in der Gesamtwertung „nur“ auf Platz sechs. Allerdings gelang ihm bei jener Auflage in Innsbruck der erste deutsche Tournee-Einzelsieg seit zwölf Jahren. „Richie kann alle vier Schanzen bei der Tournee, er war in den letzten sechs Jahren fünfmal unter ersten Zehn der Gesamtwertung. Der Schlüssel ist: Kriegt er die Einstellung rüber?“, sagt Bundestrainer Werner Schuster und fügt hinzu: „Jetzt kommt die nächste Herausforderung: Er hat bis zur Tournee viel Zeit zum Nachdenken.“
Das Kopfkino wird in den nächsten zehn Tagen bis zur Qualifikation von Oberstdorf am 29. Dezember angehen bei Richard Freitag. Beim Tournee-Auftakt werden insgesamt 40 000 Zuschauer erwartet. „Das hatten wir noch nie. Das wird ein Hammer-Auftakt“, freut sich Skiclub-Präsident Peter Kruijer und redet von einem „regelrechten Hype“ um die deutschen Flieger mit Freitag an der Spitze.
Der neue Überflieger wirkt trotzdem so, als könnte mit dem ungewohnten Erfolgsdruck umgehen. „Es macht Spaß, ihm zuzuhören. Viele sagen in einer solchen Situation immer Allgemeinplätze wie: ‚Ich will Spaß haben‘. Aber Richard ist total authentisch und hat enorm an Reife und Stabilität gewonnen“, so Schuster.
Das hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass Freitag in seiner Karriere schon viele Enttäuschungen erlebt hat. 2014 zum Beispiel musste er in Sotschi zuschauen, wie vier deutsche Teamkollegen Olympiasieger wurden. Auch bei der WM im vergangenen Winter stand Freitag nicht im deutschen Team, das sich Mixed-Gold holte. All diese Tiefschläge haben ihn nicht aus der Bahn geworfen, deshalb hebt er auch nicht ab. „Ich freue mich auf die Tournee genau wie all die Fans, die ein Ticket gekauft haben“, sagt Freitag.
Beim Auftaktspringen in Oberstdorf wird er erstmals als „Local Hero“ angekündigt werden, denn Freitag ist im vergangenen Sommer gemeinsam mit seiner ebenfalls fliegerisch hochtalentierten Schwester Selina in die Marktgemeinde umgezogen. „Ich wohne zwar im Allgäu, bleibe aber ein Erzgebirgler“, sagt der stolze Sache: „Scheinbar war der Umzug aber ein Schritt, der richtig war.“ Freitag trainiert jetzt bei Christian Winkler, der auch für die perfekte Materialabstimmung im deutschen Flieger-Team zuständig ist. Der Umzug spart Freitag außerdem die häufige Anreise zu den Trainings-Lehrgängen in Oberstdorf. Auch vor Weihnachten will das deutsche Flieger-Team noch einmal dort trainieren.
Allerdings ist der neue Lebensmittelpunkt nur ein kleiner Mosaikstein für den neuen Höhenflug von Richard Freitag, der mit seinem Schnauzbart auch sein Outfit geändert hat. Der 26-Jährige hat über die Jahre seine Sprungtechnik enorm weiterentwickelt und ist jetzt ein Topmann für alle Schanzen. „Sprunggewaltig war er ja schon immer. Aber jetzt schafft es er es auch, viel mehr Geschwindigkeit in den Sprung mitzunehmen“, sagt Schuster. Das ist auch ein Verdienst des norwegischen Co-Bundestrainer Roar Ljökelsoy. Der einstige Skiflug-Weltmeister ist im Nationalteam für Richard Freitag zuständig. Ljökelsoys Devise ist: „Stay relaxed, stay offensive.“ (Bleib entspannt, bleib angriffslustig.“).