München – Sandro Wagner will von den alten Geschichten nichts mehr wissen. Da ist er sogar ein bisschen kauzig, obwohl er sonst ein durchweg eloquenter Gesprächspartner ist. Neulich, nach dem Länderspiel in Belfast, wollte ein Reporter von ihm wissen, wie sich das anfühle, jetzt, so spät im Herbst der Karriere, plötzlich dort zu sein, wo einst eigentlich alles begann. „Ach komm’“, sagte Wagner, „hast du echt keine neuen Fragen? Da habe ich doch schon alles gesagt, mehrfach.“ Spannender sind ja tatsächlich Fragen zur Gegenwart und Zukunft – gerade bei einem 30-Jährigen, der drauf und dran gewesen ist, von seiner Vergangenheit einkassiert zu werden.
2009 Europameister mit der U 21 – neben Neuer und Hummels
Er wird es dennoch ein allerletztes Mal aushalten müssen, mit der Nacherzählung seines Werdegangs konfrontiert zu werden. Wagners Weg begann als Dreijähriger beim FC Hertha München. Mit acht holte ihn der FC Bayern, bei dem er bis ins Erwachsenenalter nie ausgesiebt wurde. 2007/08 brachte er es auf vier Profieinsätze, er stürmte neben Luca Toni und Miroslav Klose, nur reichte es nicht für den Durchbruch. Wagner ging nach Duisburg, wo sein kurioser Lebenslauf um eine weitere Pointe erweitert wurde: 2009 wurde er in Schweden mit der U 21 Europameister; auf dem Spielberichtsbogen beim 4:0 im Finale gegen England fanden sich Namen wie Manuel Neuer, Jerome Boateng und Mats Hummels – und vorn, als einzige Spitze: Sandro Wagner. Er stand da nicht bloß rum, die Tore erzielten Gonzalo Castro, Mesut Özil – und zweimal dieser Wagner vom MSV Duisburg.
Bei dem 30-Jährigen wirkt es so, als sei er vom Frühling direkt in den Herbst gesprungen. In einen goldenen zwar, aber die sommerlichen Hochphasen seiner Gefährten von einst teilte er nicht. Während Neuer, Boateng, Hummels, Özil und Kollegen Weltmeister wurden, war Wagner bei Hertha BSC gerade dabei, seine Karriere irgendwie mal in Schwung zu bringen. Erst ab 2015 ging es mit dem Wechsel zu Darmstadt aufwärts. Ein echter Spätstarter. Als er für Hoffenheim regelmäßig traf, notierte ihn sich auch Joachim Löw. Wagner hat gute Chancen, im Sommer zur WM zu fahren – und auch die Bayern sind nun bereit, für seine späte Heimkehr rund 15 Millionen Euro zu zahlen.
Als er sich neulich mit der Nationalelf auf das Länderspiel in London vorbereitet hat, meinte er, er sei heute dankbar, dass seine Karriere anders verlaufen ist: Menschlich hätte ihn sein Weg weit gebracht. „Sehen Sie: Wenn ich jetzt in Wembley zehn Tore schieße, weiß ich trotzdem, dass ich kein Stück cooler bin als jemand, der bei der Müllabfuhr arbeitet.“ Er könne alles gut einschätzen und wisse, „dass das Leben nicht endet, wenn die Karriere als Fußballer vorbei ist“. Während bei anderen solche Sätze irgendwo zwischen Flunkerei und Floskeln anzusiedeln sind, bleibt Wagner authentisch. Dass er seine Karriere auch immer ein großes Stück der Familie untergeordnet hat, ist ein weiterer Beleg, dass der FC Bayern da einen untypischen Profi an der Angel hat. Und welcher Fußballer nennt sich denn sonst in einem Atemzug mit der Müllabfuhr?
Den großen Traum von einem Wechsel nach England verkniff er sich, weil er seiner Familie – Gattin, zwei Kinder, ein Hund und einige Schildkröten – keinen unsteten Lebenswandel zumuten wollte. Die Lieben wohnen in Unterhaching, seine Tochter wurde gerade eingeschult. Die Pendelei zwischen Hoffenheim und München findet Wagner „zum Kotzen, es schlaucht – aber ich reiße meine Kinder bestimmt nicht aus ihrem Umfeld, weil Papa meint, er müsse mit 30 noch mal den Verein wechseln“. Die Heimkehr in die Landeshauptstadt wird damit zu einer Familienzusammenführung, wie es sie in dieser Branche sicherlich selten zuvor gegeben hat.
Als Mensch stellt dieser Wagner gewiss ein Gewinn dar, als Typ mit seiner unverfälschten und unkomplizierten Art ist ihm die Rolle hinter dem unverwüstlichen Robert Lewandowski auf den Leib geschneidert. Die Stellenausschreibung war ja eindeutig mit dem Verweis versehen, als zweite Geige zu kommen. Für Misstöne ist Wagner nicht bekannt. Und dass er fußballerisch früher nicht das Münchner Niveau erreichte, dürfte diesmal eher zweitrangig sein. Außerdem: Er wurde ja besser. Wagner kann noch die eine oder andere neue Geschichte schreiben.