Kitzbühel – Das Rennen nach dem Rennen zog sich hin bis tief in Nacht, mit dem vollen Apres-Ski-Programm für den Kitzbühel-Helden. Erst knallten die Böller und Raketen in den Abendhimmel, tausende Menschen jubelten ihm zu bei der Siegerehrung, ihm, Thomas Dreßen, Deutschland, der die Ski-Welt völlig auf den Kopf gestellt hatte und jetzt mit der Goldenen Gams als Hauptdarsteller auf der Bühne stand. Ein schneller Burger im Rasmushof, Musikanten schmetterten „Deep Purple“, dann ein Plausch mit Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel im VIP-Zelt, die Live-Schalte ins Sportstudio, aber irgendwann brachte ein Betreuer die Gams in Sicherheit, ehe die Party im „Londoner“ ihren nächsten Höhepunkt fand.
Thomas Dreßen versuchte, jeden Moment seines größten Tages aufzusaugen. „Es geht nicht kitschiger. Das ist unglaublich, dass das so funktioniert hat“, sagte der 24-Jährige. „Die Siegerehrung war der Wahnsinn, die Stimmung kann man mit nichts vergleichen.“ Den Rest der Nacht vermutlich auch nicht. „Ich bin schon einer, der gerne feiert. Das gehört dazu, denn wir opfern so viel über das ganze Jahr.“
1:56,15 Minuten, die sein Leben veränderten. Als er im Ziel auf den zweiten Blick begriff, dass wirklich die 1 neben seinem Namen aufleuchtete und nicht die 11 („Ich hab’ im ersten Moment geglaubt, die wollen mich verarschen“), sank er im tosenden Hexenkessel auf die Knie und reckte mit gesenktem Haupt seinen Ski in die Höhe. „Einfach nur geil. Es ist immer ein Traum von mir gewesen, mal eine Weltcupabfahrt zu gewinnen, und Kitzbühel auch. Dass ich das jetzt gleich auf einen Streich geschafft habe, ist unglaublich.“
Wirklich unglaublich, weil es sein allererster Weltcupsieg war, weil er als erst dritter Deutscher nach Ludwig Leitner 1965 (in der Zeit vor dem Weltcup) und Sepp Ferstl (1978 und 1979) in die Annalen des berühmtesten Skirennens der Welt raste. Auf den Tag 39 Jahre lag Ferstls Erfolg zurück, was die historische Dimension imposant unterstreicht. Der letzte deutsche Abfahrtssieg war auch schon eine Weile her, Max Rauffer holte ihn 2004 in Gröden.
Unglaublich ist Dreßens Triumph auch, weil er für den Abfahrtserfolg in Kitzbühel, dem andere ihre ganze Karriere erfolglos hinterherjagen, wie Bode Miller oder Aksel Lund Svindal oder Beat Feuz, nur zwei Anläufe brauchte. Bei der Premiere im Vorjahr war er gestürzt, heuer kam er ins Ziel – gleich als Sieger. Mit 24 Jahren als einer der Jüngsten aller Zeiten auf einer Strecke, auf der Routine gefragt ist. Neben Dreßen bei der Siegerehrung standen reifere Herren, Weltmeister Feuz (Schweiz/2.) und Hannes Reichelt (Österreich/3.). Fast hätte es sogar einen deutschen Doppelsieg gegeben, der gleich nach Dreßen gestartete Kollege Andreas Sander lag lange auf Podestkurs, fiel aber zum Schluss auf Platz sechs zurück. Auch das eine reife Leistung, wobei sie an diesem Tag völlig unterging.
Natürlich kam Dreßen auch ein Sonnenfenster bei seiner Fahrt zugute, also bessere Sicht. Am Vortag hatte er noch mit Reichelt ausgekartelt, wer die 1 und wer die Nummer 19 nimmt. Dreßen wollte mangels Erfahrung lieber später antreten, Reichelt ließ dem jungen Deutschen die 19. „Er hat das schamlos ausgenutzt“, sagte der Österreicher schmunzelnd, lobte aber den jungen Rivalen in höchsten Tönen. „Auf so einer Strecke, in dem Alter – das ist schon eine Topleistung. Dass er Skifahren kann, steht außer Frage, aber du musst hier ein bisserl das Herz in die Hand nehmen, das hat er getan.“ Ob er sich nun den Spott der Kollegen anhören müsse, einem Deutschen zum Sieg verholfen zu haben? „Wir haben ihn ja schon eingebürgert“, sagte Reichelt in Anspielung auf Dreßens österreichische Freundin Birgit und seinen Hauptwohnsitz in Scharnstein am Traunsee in Oberösterreich.
In Gedanken auch beim toten Vater
Beat Feuz lag in Führung, als Thomas Dreßen den Berg herunterbretterte. Unten auf der Tribüne wurde das Raunen bei jeder Zwischenbestzeit immer lauter, „ich habe noch nie so eine Gänsehaut gehabt“, sagte Zuschauer Felix Neureuther. Dreßen nutzte die Gunst einer Sonnen-Minute und überlegte später: „Wer weiß, vielleicht hat von oben wer zugeschaut und hat die Sonne ein bisschen mehr scheinen lassen bei mir“, sagte Dreßen. Was als Anspielung auf seinen Vater Dirk, der im September 2005 bei einem Seilbahnunglück in Sölden ums Leben gekommen war, zu verstehen war. Natürlich habe er an den Vater gedacht, sagte Dreßen, „aber der Dank geht nicht nur nach oben, sondern auch zu meiner Mama Martina. Wenn sie mich nicht so unterstützt hätte in dieser schweren Zeit, dann wäre ich jetzt nicht da.“ Nur wegen seines Vaters sei er Ski-Profi geworden, hat Dreßen mal erzählt.
Allein auf den sonnigen Moment wollte niemand das Heldenstück auf der Streif reduzieren. „Thomas ist ein guter Typ, er hat alles ausgenutzt, was ihm die Sonne geboten hat. Aber er ist genial Ski gefahren, so eine feine Klinge. Solche Leistungen respektiert man“, sagte Reichelt. Auch Feuz, für den es ebenfalls der erste Sieg in Kitz gewesen wäre, zollte Dreßen Anerkennung. „Es hatten neben Thomas auch noch andere Leute Sonne, aber die haben es weniger genutzt.“
Wie es der Rennkalender nun will, darf sich der neue deutsche Streif-Held aus Mittenwald gleich in der Heimat vorstellen, am Wochenende beim Weltcup in Garmisch-Partenkirchen. „Ich freue mich brutal darauf, nach Garmisch zu kommen, wenn meine ganzen Freunde zuschauen.“ Und danach die Olympia-Premiere. Dreßen bleibt unaufgeregt und bescheiden, wie das sein Naturell ist: „Olympia ist schon noch eine andere Nummer. Ich selber bezeichne mich immer noch als Außenseiter.“ Für einen Sieger von Kitzbühel, dem Olymp des Skisports, wird diese Rolle schwer zu halten sein.
Thomas Dreßens Schussfahrt zum Ski-Star hat am Samstag erst begonnen. Aber sie begann mit einem extrem lauten Böller.