München – Bei Boris Becker war es einfach: Seitdem er 17 war, wusste die Welt, wo der Tennis-Held zuhause ist: Auf dem Rasen in Wimbledon, er nannte ihn sein Wohnzimmer. Auch Sportler brauchen Plätze, an denen sie heimisch sind. Bei Thomas Müller liegen die Dinge wie so oft etwas komplexer. Er fühlt sich mitten auf dem Fußballplatz am wohlsten, das ist klar, idealerweise vor dem Tor des Gegners. Aber er bewegt sich auf Korridoren, die nur er selbst sieht. Das macht es mitunter schwer, ihm zu folgen. Und bis vor Kurzem sah es so aus, als hätte er sich selber ausgesperrt. Monatelang. Aus seinem eigenen Wohnzimmer.
Es ist so eine Sache, Jupp Heynckes einfach alles gutzuschreiben, was seit der Rückkehr des Trainers bei Bayern wieder wunschgemäß läuft. Man tänzelt da gefährlich nah an der Grenze zur mystischen Verklärung, aber dass Müller zurück in sein Wohnzimmer gefunden hat, ist eine weitere auffallende Entwicklung seit dem Dienstantritt des 72-Jährigen. Als habe er seinem Offensivmann die Schlüssel in die Hand gedrückt. Beim 4:2 gegen Bremen erzielte Müller zwei Treffer, damit schaffte er den Einzug in den erlesenen Zirkel der Münchner Profis, die für den Rekordmeister in der Bundesliga die 100-Tore-Marke geknackt haben.
Niklas Süle ist bei Bayern als Verteidiger angestellt, was viele Vorzüge hat, aber auch den Nachteil, sich tagtäglich im Training mit diesem Müller herumschlagen zu müssen. „Thomas bewegt sich immer in Räumen, die sein Gegner nicht erwartet“, schilderte der Neuzugang die Qualitäten des Nationalspielers, „er ist für seinen Gegner unheimlich schwer zu greifen. Er ist eine Kategorie, die es so nicht gibt und auch noch nie gab.“ Soweit die Sicht eines Betroffenen. Oder Bewunderers, es liest sich ja auch wie ein Lob.
Müller hat in den vergangenen Monaten ein tiefes Tal durchquert. Carlo Ancelotti setzte ihn oft auf die Bank, vor allem in großen Spielen. Wäre das so weitergegangen, hätte sich das Eigengewächs in diesem Sommer mit dem Undenkbaren befasst: Einem Wechsel, ins Ausland, irgendwohin. Angebote gab es.
Inzwischen aber hat er wieder seinen Platz gefunden; die Räume auf dem Rasenrechteck wie seine Position in der Hierarchie. Seit Manuel Neuers Verletzung ist er Kapitän, und obwohl die Konkurrenz wie immer prominent ist, darf er sich als gesetzter als die anderen führen. Zumal er sich mit James bestens arrangiert hat. „Wir sind keine Kopien, wir sind unterschiedliche Typen“, sagte er über den Kolumbianer, „er ist ein Spielgestalter mit dem Auge für den Raum, und ich komme weiter vorne ins Spiel.“ Das 4:2 am Sonntag veranschaulichte die Symbiose eindrucksvoll. Die Kugel segelte von James’ Fußgelenk in einen Raum, den, so muss man meinen, zuvor vielleicht nur zwei Menschen in der Arena ausgemacht hatten: James und Müller, der hinein flitzte und den Ball zum Endstand einschob. Das Duo harmoniert zunehmend, versteht sich blind. Jedenfalls läuft es gut derzeit – als würde Müller den Kollegen James, der eigentlich einmal als Konkurrent galt, zur Hausparty einladen, in sein Wohnzimmer.