Jimmy Waltke ist heute 64, Gymnasiallehrer in Ostwestfalen – und einer der wenigen Menschen, die sich noch die Mühe machen, ihren Festnetz-Anrufbeantworter zu besprechen. Er sei gerade nicht greifbar, sagt da seine Stimme: „Wir sind mit unserem Tiger beim Zahnarzt.“
In seinem Sportlerleben war Dieter „Jimmy“ Waltke einer der deutschen Handball-Weltmeister von 1978. Die Besonderheit in seinem Fall: Trainer Vlado Stenzel ignorierte ihn in Dänemark in den fünf Spielen bis zum Finale komplett, erst im Endspiel gegen die UdSSR wechselte er ihn ein. Waltke erzielte die Tore zum 14:12, 15:12, 16:12, schuf den Vorsprung, der den 20:19-Sieg ermöglichte. Aber: Nach seinen – die Statistiker haben es festgehalten – fulminanten 193 Sekunden musste er zurück auf die Bank. Und da blieb er.
Verrückt. Als hätte im Fußball Joachim Löw den Joker Mario Götze nach seinem Finaltor von Rio 2014 umgehend wieder rausgenommen.
Der Auftritt von Jimmy Waltke ist bei den Zeitzeugen als der Moment von 1978 hängen geblieben.
-Herr Waltke, vor elf Jahren schrieb der „Spiegel“ in einem Artikel zur WM 1978, es würde in Ihnen immer noch wüten wegen der weitgehenden Nichtberücksichtigung damals. Ist es heute auch noch so?
Nein, wüten war auch nie ganz richtig. Es war ein Unverständnis über die damalige Situation. Sie hat für mich ja ein gutes Ende genommen, besser ging es gar nicht. Aber es besteht eine gewisse Unklarheit, was da gelaufen ist.
-Sicher haben Sie eine Erklärung von Trainer Vlado Stenzel gefordert.
Er hat es nie schlüssig erklären können. Ich bin in der Folge darauf gekommen, dass er in der Hektik des Spiels diese Situation gar nicht mitbekommen hatte. Es ist ihm entgangen, dass ich drei Tore geworfen habe. Dass er mich danach wieder rausnimmt, kann man mit logischem Sachverstand weder als Fachmann noch als Laie nachvollziehen.
-Sie wollten vor dem Finale wirklich abreisen?
Ja, es war kurz davor. Die Entscheidung von Stenzel, dass ich im Finale spielen dürfte, hätte nicht viel später fallen dürfen. Für mich war klar: Die Sache ist gelaufen.
-Haben Sie ihm das gesagt oder im Mannschaftskreis angekündigt – und von dort gelangte es zu ihm?
Ich glaube nicht, dass er davon erfahren hat – und auch nicht, dass er so erpressbar gewesen wäre. Die Entscheidung ist bei ihm auf anderer Ebene getroffen worden. Ich habe später mal gehört, dass die Mannschaft sich für mich eingesetzt hat – ob es stimmt, weiß ich nicht. Der Vlado oder Herr Stenzel war nie jemand, der sich hat reinreden lassen. Der hat entschieden, wie es damals die Ostblock-Methode war. Er war der Alleinherrscher und hat gemacht, was ihm gefiel.
-Haben Sie mal nach einem anderen Beispiel im Sport gesucht, dass jemand so komprimiert und dabei entscheidend auftritt?
Nee. Mir war das in der ganzen Tragweite lange auch nicht so klar. Es war eine Nahtstelle im Spiel, der Knick ging nach oben. Die Auswechslung hat es besonders gemacht. Wenn ich reingekommen wäre und man hätte mich weiter spielen lassen. . . Also, ich kenne kein anderes Beispiel.
-Wie haben Sie die WM insgesamt denn erlebt?
Es war spannend, knapp – für mich als Zuschauer. Ich habe nie gerne irgendwo zugesehen, hätte auch nie bei einem Verein gespielt, wo man, wie heute üblich, nur bei Abwehr oder Angriff eingesetzt wird. In der Mannschaft war ich voll drin, aber mit der persönlichen Situation unzufrieden, also zwiegespalten. .
-Im Kader standen 16 Leute. Waren Sie der einzige, der links liegen gelassen wurde?
Ich war als einziger betroffen. Dabei hatte ich in der Vorbereitung regelmäßig gespielt. Bei der WM war das schlagartig vorbei. Sogar im relativ bedeutungslosen Spiel gegen Kanada bekamen alle Reservisten ihre Einsatzzeiten – doch ich vermisste meinen Namen. Schon ein dummes Gefühl.
-Sie äußern sich kritisch über Vlado Stenzel, für die Öffentlichkeit indes war er der „Magier“. Hatte er was Magisches aus Ihrer Sicht?
Handball war damals noch anders. Es gab keinen Westblock, sondern uns und den Ostblock. Die Trainer von dort arbeiteten streng nach Methode, sehr uniform, sie ließen keinen Widerspruch zu, waren in einem Schema drin. Stenzel sprengte diese Schemen, er interpretierte Handball anders. Das war seine Magie, die manchmal wirkte. Manchmal hatte er aber auch Glück. Sicher war er außergewöhnlich.
-Auch in seinen Trainingsumfängen.
Auch da. Er machte verrückte Sachen, die im Nachhinein einigen Leuten Hüfte und Knie kaputt gemacht haben. Er hatte gute Methoden, aber auch solche, bei denen wir sagten: Das geht gar nicht. Nach der Olympia-Qualifikation von 1976 (gegen die DDR, d. Red.) hatte er totale Rückendeckung vom Präsidium und den Medien. Die liebten seine Sprüche und lagen ihm zu Füßen.
-Heiner Brand erzählte kürzlich im Deutschlandfunk, Stenzel habe vor 40 Jahren schon Soziogramme erstellen lassen. . .
. . . wer wen auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Psychologisch war er schon interessiert, doch ich muss kritischerweise sagen: Er hat es auch so interpretiert, wie es für ihn sein sollte. Aber klar: Das war der Mut, neue Wege zu gehen.
-Da Sie ja auch Pädagoge sind: Konnten Sie von Stenzel was übernehmen? Oder lieber nicht?
Ich bin ihm ähnlich, was den Mut zu kreativen Lösungen angeht. Aber habe vieles bei ihm erlebt, wo ich sagen würde: So mache ich es eher nicht.
-Bekamen Sie eigentlich ein Problem aufgrund Ihrer langen Haare?
Das war ihm egal. Es kam ihm auf die Qualität des Spiels an. Dass ich äußerlich ein Außenseiter war in dieser Mannschaft, hat bei ihm keine Rolle gespielt. Wahrscheinlich hat er mich beim Präsidium eher durchgedrückt als verteufelt.
-Jimmy nannte man sie wegen der Frisur-Ähnlichkeit mit dem Musiker Jimi Hendrix. Waren Sie auch ein Hendrix-Hörer?
Ich war auch auf seinem letzten Festival auf Fehmarn 1970 wenige Wochen vor seinem Tod. Ich war, um es salopp zu sagen, schon anders drauf als der normale Handballspieler. Ich habe es mit mehr Lässigkeit genommen.
-Hallenhandball war 1978 eine noch frische Sportart, 1972 war sie erstmals olympisch gewesen. Kamen auch Sie aus der deutschen Feldhandballtradition?
Ich habe noch Feldhandball gespielt, bis 1975 parallel. Da war das letzte Endspiel, Nettelstedt-Lübbecke gegen Haßloch. Ich war lange auch nur mäßig handballinteressiert, weil ich mir nicht vorstellen konnte, diesen erfolgreichen Weg zu gehen.
-Stenzel war der erste richtige Hallenhandballtrainer in Deutschland.
Genau. Feldhandball wurde auch ersatzlos gestrichen. Es war wirklich ein anderes Spiel. Ein paar Leute aus der Szene wie Herbert Lübking oder Hansi Schmidt haben sich noch rübergerettet.
-Eine 78er-Geschichte noch: Wolfgang Böhme aus der DDR-Mannschaft soll am Abend vor dem Finale sich zu Kurt Klühspies aufs Zimmer geschlichen und ihm Spielzüge der Sowjets verraten haben – die die beiden mit Bierdosen nachstellten.
Später habe ich davon erfahren. Wenn was rausgekommen wäre, wäre das für Böhme fatal gewesen, das musste man unter der Decke halten.
-Erstaunlich, dass Stenzel Bierdosen ausgegeben hatte.
Er sah das als Schlafmedizin. Man hätte ein, zwei Bier nehmen dürfen. Doch jeder war so sehr Sportler, dass es gesittet zuging. Ich denke, unser Bier haben die DDR-Spieler getrunken, denn die waren schon raus aus dem Turnier.
-Durch einen Erfolg bleiben Mannschaften innerlich verbunden.
Das war bei uns auch so. Erfolg schweißt zusammen. Wir hatten einen guten Zusammenhalt. Und nach diesem tragischen Unfall von Jo Deckarm haben wir uns so oft gesehen, wie ich meine Klubmannschaften trotz räumlicher Nähe nicht gesehen habe. In den Jahren zwischen 1988 und 2000 bin ich hundert und mehr Mal quer durch Deutschland gefahren und habe Hallen eingeweiht und die Kollegen getroffen. Arno Ehret ist Patenonkel meiner Tochter, Rainer Niemeyer wohnte im gleichen Ort, und wir alle waren gemeinsam Skifahren.
-Nur ein Jahr nach dem WM-Titel passierte der von Ihnen angesprochene Unfall von Joachim Deckarm bei einem Gummersbacher Europacupspiel in Tatabanya in Ungarn. Zusammenprall mit einem Gegenspieler, ungebremster Sturz mit dem Kopf auf den Boden, Schädelbasisbruch, Schädel-Hirn-Trauma, Koma. Deckarm war der wohl beste Handballer der Welt, viele glaubten, so einer steht schnell wieder auf und führt sein Leben und seine Karriere fort. Als klar war, dass dem nicht so wäre und aus einem Topsportler ein Pflegefall würde, hat das in den Menschen was zerstört. Wie ging es Ihnen?
Eins zu eins genauso. Wir hatten an dem Tag ein Länderspiel in Wuppertal gegen Israel, die Gummersbacher waren für den Europapokal freigestellt. Ich habe es unter der Dusche gehört und dachte: eine Verletzung, okay, ist ja ein harter Sport, doch so schlimm wird’s nicht sein, morgen hört man dann die Entwarnung. So war es nicht. Es war ein Punkt, an dem man überdenkt, was man tut.
-Und schaut zweimal hin, auf welchem Boden man spielen muss.
Im Sommer ’79 hatten wir mit der Nationalmannschaft eine gesponserte Asienreise, wir waren irgendwo in China, und in der Halle war ein Beton-Kunststoff-Boden wie in Tatabanya. Wir als Mannschaft wollten nicht spielen, Vlado war das relativ egal. Er sagte; „Meine Jungs in Jugoslawien haben gespielt auf diesem Boden. Immer. Und was ist passiert? Nichts.“ Wir haben dann gespielt.
-Der Tod von Erhard Wunderlich, 2012 mit Hautkrebs, war sicher auch ein Einschnitt.
So früh, und er war der Jüngste. Er hatte sich ein wenig zurückgezogen von der Mannschaft. Dass es so schlecht um ihn stand, er so chancenlos war, wusste ich nicht. Wir sind nicht in dem Alter, dass man denkt, von unserer Mannschaft müsste schon jemand gehen.
-Wie geht’s Vlado Stenzel?
Gut, er wird 84, ist mobil, hat noch Ideen und mischt im Handballgeschäft mit. Wir alle werden uns vom 4. bis 6. Februar in Aschaffenburg wiedersehen. Das werden intensive Tage.
-Ihre drei Minuten werden dann noch einmal besprochen werden.
Das kann gut sein. Wobei mein sportlicher Werdegang schon noch mehr hergibt. Entdeckt wurde ich von Vlado, war bis dahin auf keinem Radar vom Verband oder einer Auswahlmannschaft. Das Überraschende zieht sich durch meine Karriere.
Das Interview führte Günter Klein