Garmisch-Partenkirchen – Oma kommt, heut ist der Tag, an dem Oma kommt. Sie kommt an die Kandahar. Mit der Eisenbahn von Jülich in Nordrhein-Westfalen nach Garmisch-Partenkirchen in Oberbayern war Sigrid Dreßen (72) angereist – dem Enkel zuschauen, wenn der vom Kreuzeck ins Tal pfeift. Sie stand schon am Freitag beim zweiten Training, als Thomas auf Platz sechs einfuhr, in Begleitung von Schwester Gaby und einer Freundin im Ziel. Nur Opa Gerd (79) blieb lieber zuhause, weil er es nervlich kaum aushält. „Als Thomas in Kitzbühel gefahren ist, konnte mein Mann gar nicht zuschauen. Er war im Flur, nur ich saß vor dem TV“, erzählte Sigrid der Bild-Zeitung. Auch sie gesteht: „Ich habe immer sehr große Angst um Thomas, dass er verunglückt und nicht gesund unten ankommt.“
Die Oma in der „Bild“, jetzt erreicht der Hype um Thomas Dreßen einen vorläufigen Höhepunkt. Dazu auf der Titelseite ein Foto, wie einige Ski-Trainer im Baum hängend auf die Strecke schauen: „Astreiner Blick“. Ohne den deutschen Helden hätte es diese Szene wohl nie auf Bild-Seite 1 geschafft, aber die Männer im Baum verfolgen ja die Fahrt von ihm, Thomas Dreßen, dem Kitzbühel-Helden aus Mittenwald, der nach Hause zurückgekehrt ist auf die Kandahar. Das interessiert womöglich sogar Menschen in Hamburg. In Jülich sowieso.
Dreßen gehört jetzt zum Kreis der ganz Großen, daran darf man sich gewöhnen. In der zweiten Übungsfahrt lag er am Freitag 0,88 Sekunden hinter dem Südtiroler Christof Innerhofer, dem „Winnerhofer“ an gleicher Stelle bei der WM 2011 (drei Medaillen), aber vor Cracks wie Axel Lund Svindal (Norwegen) oder Hannes Reichelt (Österreich). Er habe versucht, „die Schrauben ein bisserl anziehen und ein bisserl mehr in Rennmodus zu kommen“. Dreßen hat die Kandahar schon im Griff – viel besser als die Teamkollegen Andreas Sander/22., Manuel Schmid/ 27., Josef Festl/45. – aber da geht auch beim deutschen Vorfahrer noch mehr im Rennen an diesem Samstag (11.45 Uhr/ARD live).
Im Starthang „war ich noch etwas unentschlossen, habe noch nicht so schön den Zug drauf.“ Etwaigen Druck, weil als Streif-Sieger nun beim Heimrennen in der Favoritenrolle, schüttelt der „Skigigant“ locker ab. Der Erfolg habe ihn eher beruhigt als aufgekratzt, sagt Dreßen, weil ihn nun die Gewissheit begleitet: „Wenn ich einen super Tag habe, dann kann ich da vorne mitfahren. Das gibt Selbstvertrauen“, und das könnte ihn auch am Samstag aufs Podest tragen. „Ich sehe mich hier nicht als Topfavorit, habe nicht diese Erfahrung wie Svindal, Innerhofer, Reichelt. Die wissen sicher, was sie da morgen zu tun haben.“ Dreßen aber auch.
Der deutsche Cheftrainer Matthias Berthold wird seine Jungs wieder von seinem Logenplatz aus verfolgen. Am „Freien Fall“ haben ihm die Garmischer einen ganz persönlichen Beobachtungsposten eingerichtet, als Belohnung für den Kitzbühel-Sieg. Man spricht nun auch vom „Feldherrenhügel“. Über den „Freien Fall“ fliegen die Läufer rund 40 Meter hinunter. Der Schweizer Didier Cuche hat den Sprung mal so verglichen: „Das ist wie auf dem Oktoberfest. Wenn du da drüberschwebst, dann hast du einen flauen Magen wie im Super-Looping.“
Essen empfiehlt sich erst danach. „Hat jemand eine Leberkässemmel für mich?“, fragte Thomas Dreßen gut gelaunt im Ziel. Aber damit konnte auch Oma Sigrid dem Buben nicht dienen.