Melbourne – Auf einer schönen Insel im türkisfarbenen Meer, umgeben nur von seinen Lieben und verständnisvoll zurückhaltendem Personal, kann es ein Schock sein, wenn auf einmal ein Kollege um die Ecke biegt; es sind ja nicht immer nur Lieblingskollegen auf Reisen. Als Roger Federer Ende November im Urlaub auf den Malediven davon hörte, Marin Cilic sei angekommen, war das zum Glück kein Schock, denn er mag den langen Kroaten und freute sich auf eine Begegnung. Aber weil er dachte, vielleicht wolle Cilic ja seine Ruhe haben, meldete er sich zwei Tage lang nicht, und der Kollege dachte das gleiche. Doch dann schickte der eine Nachricht, in der stand: Wenn du Lust hast, dass wir uns treffen, dann melde dich, und Federer schrieb zurück: Cool. Wollen wir Bälle schlagen? So kam es, dass die beiden auf der Insel Tennis spielten wie zwei Touristen, die sich am Abend zuvor an der Bar kennengelernt hatten.
Vielleicht hätte die Welt von dieser hübschen Geschichte nichts erfahren, wenn Federers Halbfinalspiel bei den Australian Open in Melbourne gegen Chung Hyeong länger als nur gut eine Stunde gedauert hätte und dafür das Interview auf dem Platz kürzer ausgefallen wäre. Doch der bedauernswerte Koreaner, der im Laufe des Turniers beide Zverev-Brüder und später Novak Djokovic besiegt hatte, gab Ende des zweiten Satzes beim Stand von 1:6, 2:5 auf, weil er nicht mehr laufen konnte. Federer war nicht überrascht. Er berichtete, Chung sei im Spielerbereich schon seit Tagen wegen übelster Blasen nur noch auf den Außenkanten der Füße unterwegs gewesen, und unter diesen Umständen sei es höchst respektabel, wie der Gegner zumindest im ersten Satz mitgehalten habe.
Für die Zuschauer in der Rod Laver Arena endeten die Feierlichkeiten am Australia Day, dem nationalen Feiertag, damit unerwartet früh. Chung erntete allenthalben Lob für ein großartiges Turnier und einen tapferen Versuch, und Federer landete ohne größere Anstrengungen im 30. Grand-Slam-Finale seiner Karriere (Sonntag, 9.30 Uhr MEZ) gegen seinen Spielpartner aus den Ferien, mit dem er nicht nur den Tennisplatz teilte, sondern assistiert von den Partnern beider Seiten auch einen Kuchen.
Marin Cilic konnte ziemlich gut verstehen, was der arme Chung im Halbfinale mitgemacht hatte – dasselbe wie er selbst im vergangenen Jahr im Finale von Wimbledon gegen Federer. Er erinnert sich nur zu gut an die Schmerzen dieses Nachmittags und an die höchst unerfreuliche Erkenntnis, bei einer so bedeutenden Gelegenheit ziemlich hilflos zu sein. Einerseits, so sagt er, sei es ein unglaubliches Gefühl gewesen, im Finale zu spielen, andererseits sei es wegen der Umstände eben auch genau das Gegenteil gewesen. Von neun Spielen mit Cilic – natürlich nur die außerhalb der Malediven gerechnet – gewann Federer acht, aber die eine Niederlage genügt als sehr deutliche Erinnerung daran, was dieser stille, sanft wirkende Kroate auf dem Tennisplatz anrichten kann. Im Halbfinale der US Open 2014 zerlegte Cilic das Spiel des Schweizers wie mit einer großen Säge, und das ist eines jener Spiele, die er nie vergessen wird.
Und nun geht es tatsächlich im 30. Finale um seinen 20. Titel bei einem Grand-Slam-Turnier; Federer findet, das sei ein unglaubliches Ding. Er ist mittlerweile in Dimensionen gelandet, die ihm wirklich unheimlich vorkommen. Gewinnt er am Sonntag den 20. Grand-Slam-Titel, landet er im illustren Kreis mit Margaret Court (24), Serena Williams (23) und Steffi Graf (22).
Aber nie hat er das grenzenlose Glück des allerersten Grand-Slam-Siegs vergessen. Als Federer gefragt wurde, ob er sich das Frauenfinale zwischen Simona Halep und Caroline Wozniacki am Samstag ansehen werde, die bisher beide noch keinen Grand-Slam-Titel gewonnen haben, meinte er: Ja, er werde zuschauen. „Und ich wäre zu gern noch mal in der Position, den ersten zu gewinnen.“ In der emotionalen Rangliste steht die Nummer eins, gewonnen im Juli 2003 in Wimbledon, nach wie vor ganz oben. Das ist wie der erste Sprung vom Zehnmeterbrett mit acht, der erste Kuss mit 14, die erste Tour mit dem eigenen Auto. Ausflüge in eine Welt, die geheimnisvoll, verführerisch und ein klein wenig furchteinflößend ist; eine unwiderstehliche Mixtur.