Melbourne – Selbst Halbgötter verlieren manchmal ein Spiel. Roger Federer hätte gern mehr Zeit zur Erholung gehabt nach der Titelfeier im privaten Kreis, aber weil der offizielle Fototermin am nächsten Morgen wegen der schlechten Wetterprognose vorgezogen wurde, musste er bald wieder raus. Ein gewisse Müdigkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören, als er kurz nach zehn vor dem historischen Government House über den ebenso historischen Abend, die Nacht und die Gefühle am Morgen sprach. „Es wäre schön gewesen, etwas länger schlafen zu können, aber ich weiß, dass es später regnen wird“, sagte er. „Und ich bin glücklich, dass ich das hier tun muss, weil es bedeutet, dass ich es auch gestern Abend wieder geschafft habe zu gewinnen.“
Bis nachts um drei war er nach dem Sieg im Finale gegen Marin Cilic von Interview zu Interview durchgereicht worden, hatte immer wieder von den fast bizarren Gefühlen und dem ungläubigen Staunen über den 20. Grand-Slam-Titel seiner Karriere berichtet. Diesmal gab es eine etwas leisere Feier als im vergangenen Jahr nach dem 18., Familie und Freunde versammelten sich in einer Bar. Am frühen Morgen kam er mit seiner Frau Mirka zurück ins Hotel und sah noch schnell nach, ob die schlafenden Kinder gut zugedeckt sind. Die Mädchen Myla und Charlene wurden wach, sie sprangen auf und fragten: Hast du gewonnen? Hast du gewonnen? Sie machten ein gemeinsames Foto, dann legten sich die Mädchen wieder hin, und auch der ebenso glückliche wie müde Vater versuchte ein bisschen Schlaf zu finden.
Man sollte ja meinen, im späteren Stadium einer Karriere müsse ein Sieger jede Emotion, jede Reaktion auf den Titel mehr als nur einmal zuvor erlebt haben. Aber Federer versichert, auch diesmal habe er nach ein paar Stunden Schlaf kaum glauben können, dass der Pokal wieder in greifbarer Nähe stand. „Vielleicht wird es noch länger dauern, bis ich alles begreife“, sagte er im Park, als er den guten Freund Norman im Gras abgestellt hatte. Seit dem Sieg im vergangenen Jahr ist er quasi per Du mit dem Norman Brookes Challenge Cup und nennt ihn beim Vornamen, und er schleppte die Nachbildung in Originalgröße im vergangenen Jahr sogar hinauf auf verschneite Schweizer Berge.
Schon vor zwölf Monaten hatte Federer darüber gestaunt, wie viele Menschen sich weltweit mit ihm freuten, diesmal kam es ihm so vor, als seien es fast noch mehr. Ein Selfie, das er von sich und Norman in der Kabine aufgenommen hatte, wurde binnen zwölf Stunden mehr als 1,2 Millionen Mal auf Instragram für gut befunden, aber das sollte ihn nicht wundern. Wer die halbe Welt mit den eigenen Tränen zu Tränen rührt, für den gibt es keine Grenzen. „Es wird ja nicht einfacher, sondern immer schwerer mit dem Gewinnen“, sagt Federer. „Viele Leute haben mich auf dem Weg begleitet und kennen mich jetzt besser, vielleicht gibt es deshalb so viele Reaktionen.“
Er war froh, dass ihm am Morgen nach dem immer noch kaum glaublichen Gewinn des 20. Titels außer den Füßen und dem Rücken nichts wehtat, wobei er sich nicht sicher war, ob der Rücken wegen der Anstrengungen des Fünfsatzspiels gegen Cilic zwickte oder weil er den schweren Norman danach treppauf, treppab durch viele Gänge getragen hatte. Er sagt, der erfreulich gute Zustand seines Körpers mache es ihm leichter, nach der Rückkehr in die Schweiz möglichst bald ein paar Entscheidungen über die kommenden Wochen zu treffen, in denen es tatsächlich noch mal um seine Rückkehr an die Spitze der Weltrangliste gehen kann. Nach der erfolgreichen Titelverteidigung hat er nur noch 155 Punkte Rückstand auf Rafael Nadal, der in Melbourne im Viertelfinale gegen Cilic verletzt aufgegeben hatte. Entschließt sich Federer zu einem Start in Dubai Ende Februar, wo er aus dem vergangenen Jahr nur 45 Punkte zu verteidigen hat, steht es nicht schlecht in Sachen Nummer eins, weil bei Nadal in derselben Woche 300 Punkte vom Finale 2017 in Acapulco abgezogen werden.
Während der Australian Open sollte die Nummer eins kein Thema sein, das hatte er vorher mit seinem Team so abgemacht. Aber natürlich reizt ihn die Idee, nach mehr als fünf Jahren noch mal ganz offiziell der Beste von allen zu sein; Federers letzter Eintrag als Nummer eins datiert vom November 2012. Die Töchter waren damals drei Jahre alt, die Söhne Leo und Lenny waren noch lange nicht geboren, und die Zahl seiner Grand-Slam-Trophäen stand bei 17. Und die Bekanntschaft mit Norman war zwar schon eng, aber eher formell.