Garmisch-Partenkirchen – Lindsey Vonn starrte entsetzt auf die Videoleinwand, schlug geschockt die Hände vors Gesicht. Aus den Lautsprechern nur noch gedämpfte Musik, es war noch nicht abzusehen, wie schwer Jacqueline Wiles verletzt war, als sich die Helfer am Fangnetz um sie kümmerten. Erst wurde sie mit dem Akkia geborgen, dann mit dem Helikopter weggeflogen, es waren dramatische Momente an der Kandahar. Vonn lag bei der Sprintabfahrt am Samstag in Führung, die sie auch bis zum Schluss nicht mehr verlor, aber die Freude über Weltcupsieg Nummer 80 setzte doch erst mit Verzögerung und stark gebremst ein nach dem Horror-Unfall ihrer amerikanischen Teamkollegin. Die 25-Jährige erlitt einen Kreuzbandriss, einen Wadenbeinbruch und einen Bruch des Schienbeinkopfes, wie Unfallchirurg Christoph Mössmer im Klinikum Garmisch-Partenkirchen diagnostizierte. Es war kein gutes Wochenende für Vonns US-Kolleginnen: Gestern flog Stacey Cook von der Eisbahn, die Folgen waren nicht ganz so verheerend.
Das Schicksal der Kollegin Wiles machte der Siegerin besonders schwer zu schaffen, weil Wiles eine Art Zieh-Tochter von Lindsey Vonn ist. Nur mit finanzieller Unterstützung der Lindsey-Vonn-Foundation konnte sich Wiles über Wasser halten, ohne Lindseys Geld wäre Jacqueline schon aus dem US-Kader geflogen. Die Lehrmeisterin suchte gleich nach Gründen für den Sturz. Wiles kam zu weit von der Linie ab, versuchte sich ins nächste Tor zu kämpfen und stürzte. „Weil sie kämpfen wollte“, sagte Vonn. „Ich will ihr helfen, künftig klügere Entscheidungen zu treffen.“
Für Vonn kam es gestern sogar noch besser. Auch die klassische Abfahrt fuhr sie am schnellsten herunter, gewann wie am Samstag vor der Italienerin Sofia Goggia. Weltcupsieg Nummer 81 – da waren‘s nur noch fünf. Ingemar Stenmarks ersehnter Rekord steht bekanntlich bei 86. Die Deutsche Viktoria Rebensburg war schon froh, nach langer Pause wegen Krankheit und damit verbundener Abfahrts-Absenz vor den Olympischen Spielen endlich wieder ein Gefühl für die langen Ski zu entwickeln. Die Plätze elf (Sprint am Samstag) und neun (Spezialabfahrt) spielten eher eine untergeordnete Rolle. Schnell nach Hause, Koffer packen. Schon heute steigt Rebensburg in den Flieger nach Pyeongchang.
Lindsey Vonn präsentierte sich vor der Gold-Mission bei den Generalproben auf der Kandahar in bestechender Form. Den Sprint gewann sie am Samstag mit ganzen zwei Hundertstel-Sekunden vor Sofia Goggia (25), so eng ging es noch nie her im Speed-Duell mit der Italienerin, an dem beide Damen längst ihre Freude gefunden haben. „Mich mit Lindsey zu matchen, macht mir so viel Spaß“, meinte Signorina Goggia (25) aus Bergamo, und Miss Vonn (33) aus Saint Paul in Minnesota geht es genauso. Wer immer sie herausfordert, ist herzlich willkommen. Von Ilka Stuhec aus Slowenien, Weltmeisterin im Krankenstand (Kreuzbandriss), redet ja gar niemand mehr. Jetzt also Goggia. Und ein Duell wie früher Vonn gegen Höfl-Riesch. „Das habe ich jahrelang mit Maria gehabt. Wir pushen uns, können uns gegenseitig auch im Ziel gratulieren. Das ist jetzt fast genauso mit Sofia.“ Goggia führt die Abfahrtswertung mit 429:406 Punkten vor Vonn an.
Auch die Italienerin hat sich nach schwerer Knieverletzung zurückgekämpft und genießt Vonns größten Respekt: „Ich weiß, sie fährt immer mit 110 Prozent, immer. Entweder gewinnen oder raus – das ist genauso wie bei mir.“ Wegen ihres draufgängerischen Kamikaze-Stils wurde Goggias schon als weiblicher Bode Miller bezeichnet, was sie als „unglaubliche Ehre“ empfindet. Zu viel der Ehre: „Ich habe höchstens ein Prozent von Bode“, sagt sie, will aber gar nicht bestreiten, gerne ein „Showgirl auf der Piste“ zu sein. Nach dem Motto: „No risk, no fun.“
Die Fortsetzung des Zweikampfes ist bei Olympia angedacht. Im März 2017 gewann Sofia Goggia in Südkorea sowohl die Abfahrt als auch den Super-G – beide Rennen knapp vor Vonn. „Jetzt wäre es an der Zeit zu wechseln“, findet die Amerikanerin. Für ihre Ziehtochter Jacqueline Wiles endeten die Träume von Pyeongchang dagegen im Fangnetz von Garmisch.