Fragt man Waleri Weinert, ob denn wirklich genug getan wird in Deutschland für die Integration von Migranten, überlegt er etwas länger: „Jein“, sagt er dann, „jein“. Weinert sieht durchaus gute Ansätze, das schon. Aber kann Integration funktionieren, wenn ein Hochschuldiplom zum Beispiel aus Russland hier schlichtweg nicht anerkannt wird? Weinert zählt nicht zu jenen, die darüber lange lamentieren, in lähmendes Selbstmitleid verfallen. „Bitter“ sei es schon gewesen, hier seinen Unterhalt als Lagerarbeiter verdienen zu müssen, als er als Russland-Deutscher mit abgeschlossenem Pädagogikstudium vor knapp 25 Jahren in die Heimat seiner Vorfahren gekommen ist. Einer wie Weinert aber lässt sich so leicht nicht unterkriegen. „Inzwischen habe ich doch tausendmal bewiesen, dass ich ein guter Pädagoge bin.“
Waleri Weinert, Ende 50, durchtrainierter Körper, kurz geschorenes weißes Haar, gründete vor nunmehr 20 Jahren in Geretsried ehrenamtlich ein Projekt, das mehr leistet für Integration als viele teure Maßnahmen des Staates. Ein Boxclub ist es geworden, weil Weinert die Trainerlizenz besitzt, „eigentlich aber“, klärt er auf, „ist es ein Jugendtreff“, eine Sozialstation, um Jugendliche von der Straße zu holen, die große Leere in ihnen zu füllen, Aggressionen abzubauen, sie selbstbewusst zu machen, diszipliniert, ehrgeizig und letztlich lebenstüchtig in einer ihnen oft noch fremden Welt. Vier Abende pro Woche ist er da für seine Jungs, auch am Wochenende mit ihnen unterwegs zu Box-Turnieren, rund 100 Stunden im Monat“, neben seinem Full-Time Job als Lagerarbeiter. „Hier kann ich das umsetzen, was ich gelernt habe“, sagt er auf die Frage, warum er das tut, was ihn antreibt.
Klare Linie und Konsequenz
In seinem kleinen Büro in den Räumlichkeiten, die er selbst mit seinen Jungs in vielen Arbeitsstunden ausgebaut hat, steht auf einer Glasvitrine ein riesiger Pokal, sein Stifter Edmund Stoiber hat ihn nach einem Integrations-Turnier ausdrücklich dem Boxclub „Edelweiß“ vermacht, der frühere bayerische Ministerpräsident hat erkannt, dass dort mehr geleistet wird als „nur“ gute Boxer auszubilden. „Boxen“, sagt Weinert, „eignet sich besonders, weil es hier strenge Regeln gibt, man einen Gegner nicht von hinten angreifen und nicht unter die Gürtellinie schlagen darf.“ Das prägt. Auch weil Weinert penibel auf Disziplin achtet und ohne viele Worte eine absolute Respektsperson ist. Es ist die klare Linie, die Konsequenz, mit der er die Jugendlichen überzeugt und für sich gewinnt.
Rund 70 Prozent von ihnen haben Migrationshintergrund, „Edelweiß“ ist seit 2000 ein Stützpunktverein des BLSV-Projekts „Integration durch Sport“, ein bisschen Geld bringt das, das Weinert vor allem in die Ausrüstung steckt. „100 Euro kostet allein ein Paar Boxhandschuhe“, kein anderer Verein stelle seinen Mitgliedern das gesamte Material zur Verfügung. Dass manchmal was wegkommt, „tut wahnsinnig weh, es ist, als stoße mir einer einen Dolch in den Rücken.“ Weinert hasst Lügen, die Wahrheit, sagt er, „ist wie Wasser in einem Trog, irgendwann findet es ein Loch und kommt raus.“ Als er einen Jungen beim Stehlen erwischt hat, hat er ein intensives Gespräch mit ihm geführt, ihn erst einmal suspendiert: „Inzwischen ist er wieder da, was geschehen ist, wissen nur wir zwei.“ Und eines hat er ihm mit auf den weiteren Weg gegeben: „Mit Lügen kann sich keiner im Leben durchsetzen.“
Waleri Weinert ist überzeugt, dass in jedem Menschen viel positive Energie steckt. Der Philosoph Henry David Thoreau hat gesagt: „Was vor uns liegt und was hinter uns liegt, ist nichts im Vergleich zu dem, was in uns liegt. Wenn wir das, was in uns liegt, nach außen tragen, geschehen Wunder.“ Das ist Weinerts Ansatz: „Die neu hier angekommenen Menschen haben ein riesiges Potential, es wird ihnen aber zu wenig Vertrauen geschenkt, um herauszuholen, was in ihnen steckt.“
Schule schickte die schwierigsten Kids
Weinert versucht es zumindest. Und schafft es meist. Er spricht von einer Erfolgsquote von 85 Prozent, als ihm die Mittelschule Geretsried ein paar der schwierigsten Schüler vorbeigeschickt hat, Jugendliche, mit denen die Schule selbst nicht mehr klarkam. „STARK“ nannte sich dieses Projekt, die einzelnen Buchstaben stehen für „Sozial, Training, Aktivierung, Regeln, Kompetenzen“, alles Dinge, die den Schülern, die durch Aggressivität, fehlenden Respekt, wüste Ausdrucksweise und auch Straftaten aufgefallen sind, an zwölf Freitagen vermittelt werden sollten. Weinert opferte dafür seinen letzten freien Abend unter der Woche, nein, opfern würde er nie sagen. Für ihn ist es eine Herausforderung, eine große Aufgabe, eine Berufung. Und letztlich wieder eine Bestätigung dafür, dass er eben doch ein guter Pädagoge ist, auch wenn seine Diplome hier nicht anerkannt sind. Mit seinen Fähigkeiten brachte er die Jugendlichen, die anfangs kaum ein Wort rausbrachten, dazu, sich zu öffnen, es gab Mädchen, die am Schluss sogar vor anderen Kindern tanzten, „ohne jede Scham“, so Weinert.
Dabei ist Weinert kein Typ, der einen sofort anspricht. Im ersten Moment wirkt er abweisend, etwas mürrisch, eher wortkarg. Offensichtlich aber besitzt er viel Empathie, findet schnell Zugang zu Jugendlichen. Mohammed, 9, ist mit der Flüchtlingswelle vor zwei Jahren aus Syrien nach Deutschland gekommen, war aggressiv, sah in jedem einen Konkurrenten, einen Gegner, konnte sich in der Schule nicht konzentrieren. Corinna Sporer, die sich mit ihrem Mann um die Familie kümmert, wurde durch die Caritas auf Weinert aufmerksam gemacht, und sieht schon nach wenigen Monaten „deutliche Fortschritte“. Für Weinert selbst war Mohammed „anfangs wie ein wildes Tier, das jeden beißen wollte. Wir haben ihm gezeigt, er ist einer von uns, kein Opfer.“ Jetzt zeigt er eine gute Entwicklung, „ist auch in der Schule besser geworden“, wie Corinna Sporer anerkennt: „Mich fasziniert die Atmosphäre im Club, hier kommt und geht wirklich keiner, ohne freundlich zu grüßen.“
Vom Stolz, ein „Edelweissler“ zu sein
Die Flüchtlingswelle hat Weinert vor eine neue Herausforderung gestellt. Es gab manche Widerstände, einige Mitglieder kündigten, bemängelten die fehlende Hygiene der Neuankömmlinge, gewisse Eigenheiten. „Wie lange ist jetzt schon Krieg in Afghanistan“, fragt Weinert. „Das sind alles Kämpfer, fühlen sich immer bedroht.“ Sie zu integrieren, gehe nicht von heute auf morgen, man braucht viel Geduld, die Weinert aufbringt: „Hier bekommen sie einen Status, sind stolz, wenn sie sportliche Erfolge haben, von sich in der Zeitung lesen.“ Nur wer sich den strengen Regeln im Klub anpasst, der hiesigen Kultur, ist auf Dauer willkommen. „Wir haben ja auch ein paar Mädels hier, wer die nicht als gleichwertige Mitglieder anerkennt, kann gehen.“
Schließlich ist es ein Prädikat, ein „Edelweisser“ zu sein. Darauf sind sie stolz, „wir sind“, sagt Weinert, „eine große Familie, hier herrscht noch echter Teamgeist.“ Hier sind sie alle gleich, ob Deutscher, Bosnier, Syrer oder Afghane, ob Anfänger oder bayerischer Meister, „hier hilft jeder jedem, der Stärkere dem Schwächeren, der Größere korrigiert den Kleineren, greift ein, wenn er Fehler macht.“
Das ist gelebte Integration. Was vielleicht nur einer schafft, der selbst als Fremder gekommen ist. Fühlt sich Waleri Weinert heute voll integriert, nach knapp 25 Jahren in Deutschland? Er überlegt, die Antwort kommt zögernd. „Ja, eigentlich schon. Nur, wenn ich den Mund aufmache, dann kann es schon sein, dass ich auf Vorbehalte stoße.“ Doch diesen Akzent, weiß Weinert, „werde ich wohl nie loswerden.“
„Deutschland braucht diese Leute“
Aber müssen die Deutschen denn Angst haben vor den Fremden? Weinert deutet raus über die Straße, Richtung Polizeidienststelle: „In deren Statistik sind Deutsche und Migranten bei Straftaten auf etwa einem Niveau“, vieles, was verbreitet werde, sei geprägt von Vorurteilen. „Deutschland“, sagt er, „braucht die Zuwanderung, braucht diese Leute, braucht frisches Blut.“ Deutschland braucht aber vor allem Leute wie Waleri Weinert, die bei der Integration dieser Menschen, vor allem der Jugendlichen, helfen, die sich engagieren, uneigennützig, Türen öffnen und Wege ebnen.
So lange es Gesundheit und Job zulassen, werde er seinen Boxclub, der eigentlich ein Jugendtreff ist, fortführen, „hier kann ich das machen, was ich gelernt habe, was ich am besten kann“, so der Pädagoge. Selbst wenn er nach einem Arbeitstag „körperlich kaputt“ ist, die beste Erholung für Körper und Geist sei, „wenn man dann was völlig anderes macht.“ Schwierig sei ja nicht, „den Kindern etwas beizubringen“, nur eben jeden Abend da zu sein, hinterher aufzuräumen und zu putzen, das gehe schon mal an die Substanz. Darüber lange nachzudenken, erlaubt die Größe der Aufgabe aber nicht. Für Waleri Weinert ist das weit mehr als ein Ehrenamt, es ist seine Berufung.