Olympiasieger für drei Minuten

von Redaktion

Kurz vor Schluss führt das deutsche Eishockey-Team im Finale noch – doch dann entgleitet Gold

VON ARMIN GIBIS

Pyeongchang – So viele harte Männer sieht man selten gleichzeitig weinen. Mit gesenkten Köpfen verharrten die deutschen Spiele auf dem Eis, vielen rannen die Tränen übers Gesicht. Untröstlich war vor allem Jonas Müller, der Deutschland bereits zum Olympiasieg geschossen zu haben schien. „Da ist schon kurz die Welt zusammengefallen“, sagte Yannic Seidenberg, Verteidiger vom EHC München, „wir konnten es nicht glauben, dass uns das Gold aus der Hand gerutscht ist.“

Das tat weh. Mit 3:4 nach Verlängerung unterlag die deutsche Nationalmannschaft der Auswahl der Olympischen Athleten aus Russland (OAR), nachdem sie drauf und dran gewesen war, die größte Sensation der Eishockey-Geschichte zu schaffen. Der Kölner Verteidiger Moritz Müller meinte: „Das war eine einmalige Chance, einmaliger geht es nicht. Wir waren für drei Minuten Olympiasieger. Wir hatten die Hand an der Goldenen.“

Durch Himmel und Hölle

In diesem olympischen Endspiel gingen die deutschen Eishockeyspieler tatsächlich emotional durch Himmel und Hölle. Im Duell mit dem hohen Favoriten hatten sie sich zunächst auch durch den 0:1 Rückstand, erzielt durch Slawa Wojnow 0,5 Sekunden (!) vor dem Ende des ersten Drittels, nicht aus der Ruhe bringen lassen. Und als Felix Schütz (30.) ausglich, wurden die vielen russischen Fans, die sich im nicht ausverkauften Gangneung Hockey Center klar in der Überzahl befanden, zusehends leiser. Zumal die Spieler in den gelb-schwarzen Trikots der Sbornaja zusetzten wie ein Schwarm Hornissen.

Bundestrainer Marco Sturm sollte später sagen: „Normalerweise sitzen wir in Deutschland auf der Couch und schauen uns dieses Spiel im Fernsehen an.“ Doch gestern kämpften die Deutschen nach ihren ohnehin schon wundersamen Siegen über Schweden und Kanada (jeweils 4:3) um Gold. Und das im Stile eines Klasseteams. Sturm befand: „Wir waren am Drücker.“

Ganz besonders im Schlussdrittel, als der Eishockey-Wahnsinn Ping-Pong zu spielen schien. Das 1:2 von Nikita Gusev (54.) konterte nur zehn Sekunden später Dominik Kahun, einer von sieben Nationalspielern des EHC München, mit dem Treffer zum 2:2. Drei Minuten drauf gelang dem 22-jährigen Jonas Müller (Eisbären Berlin) gar das 3:2.

„Wir haben ein super Spiel gemacht, wir waren so knapp davor, als Olympiasieger rauszugehen“, sagte Seidenberg. Doch dann widerfuhr ihm ein Malheur, das Russland kurz in Überzahl brachte. Er verlor den Helm, musste somit vom Eis. „Die Russen haben das eiskalt genutzt.“ Und zwar 55 Sekunden vor dem Spielende, erneut durch Gusev. Viel dramatischer geht es nicht. „So verrückt ist es im Sport. Aber deswegen ist Eishockey auch eine der besten Sportarten“, meinte Marcus Kink, Mannheimer Stürmer mit väterlichen Eishockey-Wurzeln in Garmisch-Partenkirchen.

Auch das 3:4 in der zehnten Minute der Verlängerung kam eher unglücklich zustande. Der Nürnberger Torjäger Patrick Reimer musste für zwei Minuten auf die Strafbank. „Das hätte man gerade in solch einem Spiel auch durchgehen lassen können“, haderte Seidenberg mit der Entscheidung.

„Sehr bitter – aber der Stolz ist größer“

Der Siegtreffer für die Russen durch Kirill Kaprisow hatte zunächst niederschmetternde Wirkung. „Es war einfach sehr bitter“, sagte Sturm, „aber der Stolz auf unsere Leistung ist größer.“ Die Deutschen gingen zwar geknickt, aber als grandiose Verlierer vom Eis. „Meine Spieler und ich werden diesen Tag nie vergessen. Solch ein Spiel gibt es nur einmal im Leben“, betonte der Chefcoach. 42 Jahre lang habe man über die 1976 in Innsbruck gewonnene Bronze-Medaille gesprochen, so Sturm, „ich denke, mit unserer Truppe wird das genauso lange dauern.“

Schon bei der Medaillenübergabe wurde offensichtlich, dass die Freude über Silber überwog. „Es ist schön“, sagte Moritz Müller, „etwas um den Hals hängen zu haben.“ Wohl aus dem gleichen Grund zeigte sich auch Patrick Reimer, dessen angebliches Foul die Finalniederlage eingeleitet hatte, am Ende frohgemut: „Auf dem Bild, auf das wir unser Leben lang schauen werden, wollte ich nicht mit einer Grimasse stehen, sondern mit einem Lachen im Gesicht.“

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