Das 1:7 und die Jahre danach

von Redaktion

Die Deutschen wollen vom Spiel 2014 in Belo Horizonte nichts mehr wissen, die Brasilianer quält es noch immer

VON GÜNTER KLEIN

Berlin – Ein brasilianischer Journalist, einer jener stets auf Hochtouren fahrenden Reporter, denen das Mikrofon am Körper festgewachsen scheint, meldete sich in der DFB-Pressekonferenz in Berlin: Er habe eine Frage an Ilkay Gündogan, den deutschen Nationalspieler.

Aber dann kam gar keine Frage, sondern eine Erzählung zu den Zahlen eins und sieben, die seit dem Juli 2014, dem Halbfinale der letzten WM, für mehr stehen als ein Fußballergebnis, das Brasilien widerfahren war. „Man sagt bei uns 1:7 zu allem Schlechten. Es ist ein Symbol geworden, wo immer etwas misslingt. Politisch, gesellschaftlich. Das ist 1:7.“ Der Journalist stellte diesen Satz in den Raum, als würde er sich erhoffen, dass Gündogan jetzt etwas typisch Europäisches sagt, etwas Grundvernünftiges. Wie: Ist doch nur ein Spiel, nicht das Leben.

Doch Gündogan sagte: „Ich kann das verstehen. Ich hatte ja immer brasilianische Mitspieler und weiß, wie sie empfinden. Auf den Fußball bezogen sind sie alle sehr emotionale Menschen, er hat einen hohen Stellenwert in ihrem Leben, etwas Spirituelles.“ Das war aus berufenem deutschen Mund die Bestätigung: Das 1:7 war vernichtend für Brasilien, ist vernichtend, bleibt vernichtend.

Gündogan, damals verletzt, spielte bei der WM 2014 nicht mit. Wie einige der heutigen DFB-Akteure erlebte er die Jahrhundert-Partie im Trainingslager mit seinem Verein (Dortmund). Man schaute in einer größeren Gruppe und konnte nicht glauben, was sich da abspielte. 5:0 nach nicht einmal einer halben Stunde. In der Halbzeit, so erfuhr man danach, beratschlagten die Spieler und der Trainer, wie man mit der restlichen Spielzeit verfahre. Man entschied: Brasilien nicht vorführen. Das Ziel von da an waren nicht weitere Tore, sondern Sportlichkeit und Respektbekundung vor einem Gegner, der an diesem Tag nicht groß sein konnte. Das Endergebnis lautete 7:1.

Wer live in Belo Horizonte dabei war, dem blieb der Sound des Spiels in Erinnerung. Zunächst eine krachend vorgetragene Nationalhymne. Brasilien musste ohne Neymar spielen, im Viertelfinale war ihm ein Kolumbianer ins Kreuz gesprochen, dass der Jungstar eine Wirbelverletzung erlitt, von der klar war: Sie würde keine Langzeitfolgen haben, aber das Turnier beenden. Brasilien hatte damals vor allem Neymar. Im Trikotverkauf gab es fast nur die Nummer 10 und seinen Namen drauf. Die anderen Stars wie der kantige Stürmer Hulk oder Verteidiger David Luiz neideten Neymar seinen Sonderstatus nicht. Auch sie verehrten ihn. Bei der Hymne hielten sie sein Trikot. Wir spielen für dich! Was für eine Trotzigkeit, was für eine Jetzt-erst-recht-Stimmung. Man musste glauben, der brasilianische Willen würde die Deutschen wegfegen. Doch die blieben cool, es war ihr Spiel, in dem alles funktionierte.

Brasilien zerbrach, der arme Dante, durch Verletzungen besserer Kollegen in die Startelf gerutscht, erlebte ein traumatisches Spiel, seine Münchner Kameraden von der anderen Seite mussten ihn danach in den Arm nehmen. Noch Monate danach im Vereinsbetrieb wurde der sanftmütige Dante fuchsig, wenn einer das 1:7 erwähnte. Er schämte sich dafür.

Sie hatten so vieles verloren an diesem einen Tag, die Brasilianer. Ihren Status als Welt-Attraktion des Fußballs. England mag das Mutterland des Sports sein, doch Brasilien hat die meisten WM-Titel gewonnen (fünf), die größten Spieler hervorgebracht, Pele allen voran. Überall auf der Welt verpflichteten die Klubs Brasilianer – als Garantie für besseren Fußball. Sogar auf den Färöer kickten einige der 6000 Auslandsprofis – so hat es der englische Journalist Alex Bellos in seinem Standardwerk zum brasilianischen Fußball aufgeführt.

Das große Geschäft hat Brasilien aber fast verschlungen. Der Verband verkaufte sich und seine Länderspiele an eine Marketingagentur. Spielerberater bestachen Trainer, dass sie ihren Schützlingen ein, zwei Berufungen in die Selecao gewährten, weil man sie dann mit dem Prädikat hoffnungsvoller Jungnationalspieler an einen Verein in Europa verscherbeln konnte. Und bei den großen Stars waren die Besitzverhältnisse meist kompliziert. Die FIFA konnte irgendwann nicht mehr hinsehen und verbot die gängige „Third Owner Partyship“, bei der dritte Parteien Transferrechte an Spielern hielten.

All diese Probleme (und die wirtschaftlichen des ganzen Landes) wollte Brasilien bei der WM 2014 wegspielen. Unter dieser Erwartung zerbrach es. Und der simple Grund war, dass es bis auf Neymar keine Spieler in ihrer Blüte hatte. Die Selecao 2014 war eine der schwächsten der Geschichte. Sie hätte nicht unbedingt ins Halbfinale kommen müssen, Schon das war Glück plus Heimvorteil.

Es ist eine andere Mannschaft, die Brasilien 2018 hat. „Nicht mehr so abhängig von Neymar“, sagt Gündogan, der einen der neuen Stars bei Manchester City zum Kollegen hat: Jesus. Gabriel Jesus, 20, Torjäger. Gündogan nennt ihn „Gabi“. Toni Kroos, Mittelfeldstar der DFB-Auswahl und einer der strahlenden Sterne von Belo Horizonte, wirbt für Casemiro, mit dem er bei Real Madrid spielt: Typ Stratege, der die Balance zwischen Angriffslust und defensiver Verantwortung herstellt. Er schwärmt auch von Paulinho vom FC Barcelona. In England war man begeistert von Philippe Coutinho, dem Stürmer von Jürgen Klopps FC Liverpool – ehe ihn im Januar für 120 Millionen Euro der FC Barcelona kaufte. Neue Namen, eine neue brasilianische Mannschaft. Die deutschen Spieler sind sich einig: Ein Mitfavorit bei der WM in Russland. Ein Testspiel in Moskau hat Brasilien am Freitag locker 3:0 gewonnen.

Die Deutschen hatten an diesem Tag Spanien als Gegner, nach dem 1:1 wurde Mats Hummels mit Blick auf heute gefragt: „Werdet ihr über das 7:1 sprechen?“ Der Verteidiger fuhr resolut dazwischen: „Nein!“ Nahm die Sporttasche und ging zum Bus. Spieler halten sich nicht mit dem Blick zurück auf. Thomas Müller sagt deutlich: „Der Sieg hat uns ins Finale verholfen, wie es bei einem 2:1 aber auch gewesen wäre. Für uns wird das besondere Spiel das Finale bleiben.“

Das unerhörte Halbfinale abzuspeichern ist ja auch eher die Aufgabe derer gewesen, die es als Zeitzeugen verfolgt haben. Der Journalist Christian Eichler (FAZ) schrieb ein Buch, in dem er das Jahrhundertspiel bis ins Detail jeder Minute sezierte – zurecht gewann er dafür Preise. Tiefenanalysiert haben es auch die damaligen Bundesligaprofis Stefan Reinartz und Jens Hegeler, denen auffiel, dass alle statistischen Daten (Ballbesitz, Schüsse, Ecken etc.) dafür sprachen, dass Brasilien hätte gewinnen müssen. Ihr darauf gründendes Packing-System (wie viele Gegner überspielt ein Steilpass) ist heute fast Standard.

Aber: Eine Revanche fürs WM-Halbfinale ist das nicht, Gelüste darauf haben die Brasilianer mit dem Olympiasieg 2016 gegen die Deutschen schon ein wenig befriedet. Das 1:7 als Mahnmal hat jedoch sogar die Goldmedaille überdauert. Das 1;7 wird bleiben, auch wenn Gündogan versuchte, dem brasilianischen Reporter noch was Hoffnungsstiftendes mit auf den Weg zu geben: „Das Schöne im Sport ist: Man trifft sich immer ein zweites und drittes Mal.“

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