Die drei Fragezeichen

von Redaktion

von marc beyer

Es gibt um diese Jahreszeit unangenehmere Orte als Mauritius. Der April macht bekanntlich, was er will, und obwohl er es gerade mit den Menschen in Bayern sehr gut meint, kann das Sepp Maier herzlich egal sein. Bis Montag verbringt er noch seinen Urlaub im Indischen Ozean. Wenn er dann erholt aus dem Flieger steigt, steht auch schon das nächste freudige Ereignis an. Am Mittwoch steigt das erste Halbfinale seines FC Bayern gegen Real Madrid.

Sollte Maier, der Altmeister zwischen den Pfosten, im Stadion sein, könnte ihm sein vielleicht berühmtester Nachfolger über den Weg laufen. Noch immer ist Manuel Neuer ja zum Zuschauen verdammt, mehr als sieben Monate nach jener Operation am 19. September, als ihm in Tübingen eine Platte im linken Fuß eingesetzt wurde, um einen Haarriss zu behandeln. Erst war von drei Monaten Pause die Rede, dann von vier, und irgendwann wurden gar keine Prognosen mehr genannt. Sepp Maier würde sich freuen, den Torhüterkollegen zu treffen, einerseits. Andererseits könnte selbst einem Spaßvogel wie ihm das Lachen vergehen, wenn er den Schlussmann in Zivil sieht: „Manu muss unbedingt zur WM.“ Und dazu sollte er schleunigst in den Spielbetrieb zurückkehren.

Seit Freitag ist die Welt klüger, wenn auch nur ein bisschen. Neuer trainiert nun wieder mit der Mannschaft, aber was das konkret bedeutet, ist noch nicht so richtig klar. Auf die Frage, wie er in den nächsten Wochen mit dem Rückkehrer verfahre, antwortete der stets auskunftsfreudige Jupp Heynckes ungewohnt wortkarg: „Ich weiß, was ich mache. Ich habe einen Plan, aber Sie werden ihn erst sehen, wenn ich ihn umsetze.“

Auf seine alten Trainertage wird Heynckes noch mal allerhand abverlangt. Erst die monatelangen Spekulationen um seine Zukunft und nun das. Die Personalie ist ein Politikum, sie ist innen- wie außenpolitisch hochkomplex. Es geht um die Interessen des Spielers, seines Vereins, des ganzen Landes. Und längst nicht immer sind all diese Interessen deckungsgleich.

Sepp Maier sagt: Ein, zwei Spiele reichen

Der Fall Neuer war von Anfang an auf vielen Ebenen ein ganz spezieller Aufreger. Er führte den Bayern vor Augen, wie schnell ihnen ein Spieler abhanden kommen kann, der in der Kategorie „unverzichtbar“ geführt wird, hatte einen Umbau der medizinischen Abteilung und die Rückkehr von Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt zur Folge und machte aus dem fast vergessenen Reservisten Sven Ulreich einen heißbegehrten Schlussmann mit WM-Ambitionen. Viel Unerwartetes ist seit Mitte September passiert. Einem Termin, als der Bayern-Trainer noch Carlo Ancelotti hieß.

Das vielleicht Überraschendste aber: Sportlich wird Manuel Neuer streng genommen gar nicht wirklich vermisst. Vielleicht sprach Heynckes auch deshalb am Freitag einen bemerkenswerten Satz: „Die Diskussion kommt mir viel zu früh.“ Die Bayern müssen nichts übereilen, weil sie ja nun ihren Ulreich haben. Pikant ist die Aussage trotzdem. Jeder, dem nicht nur die Interessen des FC Bayern am Herzen liegen, wird finden, dass die Zeit allmählich knapp wird.

Normalerweise, wenn ein Spieler nach einer langen Verletzungspause zurückkehrt, erreicht die Aufregung beim ersten Einsatz ihren Höhepunkt und geht dann allmählich in einen Zustand der Gewöhnung über. Bei Neuer ist das anders. Wenn er endlich wieder da ist, geht es erst so richtig los. Längst ist der insgesamt dreimal gebrochene Knochen der Mittelfuß der Nation. Es sind nicht nur Bayern-Fans, die der vollständigen Genesung des Schlussmanns entgegenfiebern. Auch in Dortmund, Schalke oder Leipzig würde man es sehr begrüßen, wenn Neuer im Sommer wieder in einer Verfassung wäre wie – nur so als Beispiel – im Sommer 2014.

Sepp Maier hat da keine Bedenken: „Er braucht vielleicht ein oder zwei Spiele, um sich wieder zurecht zu finden.“ Er sagt das nicht nur mit der Autorität eines Weltmeisters und Bayern-Vereinsheiligen. Maier war auch selber Torwarttrainer und weiß deshalb besser als die meisten Menschen, dass es nicht damit getan ist, Bälle fest zu halten. Und trotzdem steht seine Prognose: Ein, zwei Spiele. Mehr nicht.

Die Verehrung, die Neuer entgegenschlägt, hat titanenhafte Züge. Es gibt nichts, was die Menschen ihm nicht zutrauen, und sei es eine WM-Reife aus dem Stand. „Als Weltklassetorhüter verlernt man so schnell nichts“, argumentiert Maier, außerdem stünden in der Bundesliga noch ein paar Runden an: Nächste Woche gegen Eintracht Frankfurt, danach in Köln und zum Abschluss gegen den VfB Stuttgart. Zwei Spiele, vielleicht drei. „Da Bayern sowieso schon Meister ist, kann Manuel gar nichts falsch machen.“

Und doch sind die kommenden Wochen auch für einen wie Neuer keine Kleinigkeit. Es ist ja nicht so wie vor der WM 2014, als er ebenfalls auf den letzten Drücker fit wurde, aber vorher nur ein paar Wochen pausieren musste (wegen einer Schulterblessur aus dem Pokalfinale). Diesmal muss er mehr als ein halbes Jahr aufholen. Eigentlich eine ganze Saison.

Allein schon methodisch ist das eine immense Herausforderung. Einer, der das am eigenen Leib erfahren hat, ist jener Mann, der in den letzten Monaten aus Neuers Schatten gehechtet ist. Im Herbst, als Sven Ulreich gerade zur Nummer eins aufgestiegen war, bekam er hautnah zu spüren, wie schwer sich der Ernstfall als Torwart simulieren lässt. „Das hat man einfach im Training nicht, weil man auf viel kleineren Feldern übt“, stellte er nach wenigen Wochen fest. Das erste Spiel, am Tag der Neuer-OP, verlief noch vielversprechend (3:0 in Schalke), doch dann wurde der Herbst erst mal ungemütlich, für Ancelotti und für Ulreich.

Natürlich kann man nicht einfach von ihm auf Neuer schließen. In Wahrheit hatte es Ulreich wesentlich leichter, weil er die ganze Zeit gesund gewesen war. Ihm fehlte einfach bloß die Matchpraxis: „Über längere Distanzen braucht man wieder das ganze Feeling, die Abläufe. Man macht ja selten ein Spiel Elf gegen Elf.“ So schlichen sich Fehler ein: „Man schätzt den Ball ein bisschen falsch ein und weiß selber nicht genau, warum man das jetzt so gemacht hat.“

Die Frage, in welchem Zustand Neuer ins WM-Trainingslager in Südtirol reisen wird – falls er denn reist –, ist keineswegs die einzig heikle. Ähnlich schwer ist abzuschätzen, wie sich seine Ziele in nächster Zeit mit denen des FC Bayern vereinbaren lassen. Aufbaupartien gegen Frankfurt, Köln oder Stuttgart mögen für den Torwart wertvoll sein. Aber naturgemäß bieten solche Einsätze nicht allzu viele jener Herausforderungen, mit denen sich ein Torwart wieder an das ganz hohe Niveau herantasten kann. Dafür müssen schon andere Kaliber auf dem Platz stehen. Teams wie Real Madrid. Und wenn schon Frankfurt der Gegner ist, dann wenigstens in einem Pokalendspiel.

Die Bayern können in den nächsten Wochen eine Menge gewinnen, aber ihnen kann auch allerhand entgleiten. Wenn Karl-Heinz Rummenigge in ruhigeren Zeiten, irgendwann im Herbst, auf ein mögliches Triple angesprochen wird, tut er das gewöhnlich mit dem Hinweis ab, dass ein solcher Erfolg in der fast 120-jährigen Vereinsgeschichte erst ein einziges Mal gelungen sei. Jetzt aber, als Meister, Finalist (Pokal) und hoffnungsvoller Halbfinalist (Champions League), bietet sich ihm diese rhetorische Hintertür nicht mehr.

Auch Sven Ulreich ist nun WM-Kandidat

Die Aussicht auf einen zweiten Coup binnen fünf Jahren ist nicht länger Utopie. Ausgerechnet in dieser Phase einen Welttorhüter wieder zu integrieren, der für den Verein viel geleistet hat, ist eine Aufgabe, die zwangsläufig mit Enttäuschungen verbunden sein wird. Entweder trifft es Ulreich, der aus der Mannschaft immer öfter das Prädikat „Mann des Jahres“ erhält. Oder Neuer, den Unverzichtbaren.

Als Ulreich am Dienstag in Leverkusen einen weiteren bravourösen Auftritt hinlegte, attestierten sowohl Thomas Müller als auch Hasan Salihamidzic ihm anschließend WM-Reife. Mag sein, dass man im Rausch der Endorphine sowas sagt. Aber unfreiwillig lenkt es den Blick auf den Auswahlprozess, der schon bald nicht mehr nur ein Münchner Thema sein wird. Ulreich und Neuer im DFB-Kader, das ist schwer denkbar.

Fände im Sommer kein großes Turnier statt, ließe sich die Problematik elegant umgehen. Neuer hätte in diesem Fall keinen Zeitdruck und könnte sich in aller Ruhe die Grundlagen erarbeiten, um nach der Sommerpause wieder voll anzugreifen. Er ist zwar für seine Ungeduld bekannt, aber er weiß auch, dass er vorsichtig sein muss. „Es ist wichtig, dass dem Fuß jetzt nichts mehr passiert“, sagte er neulich. „Denn dann könnte es wirklich um die Karriere gehen.“

Als sich im März die Nationalmannschaft traf, wurde Joachim Löw natürlich auch auf das große Fragezeichen im DFB-Tor angesprochen. Löw und sein Trainerstab haben immer ihre felsenfeste Hoffnung zum Ausdruck gebracht, für Neuer werde die Zeit ganz sicher reichen. Zuletzt klang er etwas defensiver („Wenn ein Spieler in der Vorbereitung überhaupt keine Rolle spielen kann, ist es schwierig, ihn zu nominieren“), aber das muss nicht zwingend etwas besagen. In der WM-Vorbereitung, wenn zwei Testspiele gegen Österreich und Saudi-Arabien anstehen, könnte Manuel Neuer nach Lage der Dinge eine sehr aktive Rolle spielen.

Dass er die WM verpassen könnte, erscheint trotz aller Verzögerungen im Genesungsprozess noch immer schwer vorstellbar. In der öffentlichen Wahrnehmung ist er längst mehr als ein Torwart. Einer, der den Unterschied ausmacht zwischen einer sehr guten Mannschaft und einem potenziellen Weltmeister. Auf so jemanden verzichtet man nur, wenn es gar nicht anders geht. Löw mag den Glauben an Finalhelden wie Mario Götze oder André Schürrle verloren haben. Aber Neuer, der Kapitän, das ist eine andere Kategorie.

Jupp Heynckes machte am Freitag, als es immer weiter um die unendliche Torwartgeschichte ging, fast schon einen genervten Eindruck. So ganz scheint er die Aufregung um dieses Thema nicht zu verstehen: „Der Plan war: Kontinuierlich aufbauen, spielen und fit für die WM werden.“ Der Trainer klang, als befände sich Manuel Neuer exakt im Plan.

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