Die tiefschwarze Bestie

von Redaktion

Der FC Bayern versteht sich seit Jahrzehnten als Angstgegner von Real Madrid – in Wahrheit ist es inzwischen umgekehrt

von marc beyer

München – Das Spiel war schon fast vorüber, als Cristiano Ronaldo doch noch eine sportlichen Akzent setzte. An der Seitenlinie versuchte Joshua Kimmich einen Angriff einzuleiten, als sich ihm der Portugiese in den Weg stellte und den Ball ablief wie ein versierter Verteidiger. Applaus von den Rängen bekam er dafür nicht. Aber für einen Moment vergaßen die Leute, ihn auszupfeifen oder auf andere Weise zu schmähen.

Lautstarke Ablehnung ist für Fußballer häufig auch ein Kompliment, und keiner wird dermaßen überhäuft wie der eitle, aber eben auch sehr treffsichere Torjäger von Real Madrid. Die gegnerischen Fans mögen ihn nicht, sie lieben es, ihn zu verspotten. Vor allem aber fürchten sie ihn.

Als Ronaldo am Mittwochgabend kurz vor der Pause zu einem Fallrückzieher ansetzte, schien das Stadion für einen Moment die Luft anzuhalten. Im Viertelfinale gegen Juventus Turin hat er auf diese Weise ein atemberaubendes Tor erzielt, das weltweit für Aufsehen sorgte, doch diesmal war die Bewegung nur ein Täuschungsmanöver. Er ließ die Kugel passieren, Sekunden später beförderte sie der Linksverteidiger Marcelo ins Netz.

Man tut Ronaldo nicht Unrecht, wenn man diese Aktionen zu seinen besten des Abends zählt. Genau genommen machte er ein lausiges Spiel. Einmal traf er zwar kunstvoll ins lange Eck, aber diesem wuchtigen Abschluss war ein Handspiel vorausgegangen, das so offensichtlich war, dass die Bayern-Gemeinde dem Einschlag des Balles völlig entspannt zuschauen konnten. Allein Cristiano Ronaldo behauptete nach dem Spiel felsenfest, der Treffer sei regulär gewesen.

Die matte Leistung des Weltstars, der erstmals in der laufenden Champions League-Kampagne ohne Tor blieb, hätte für den FC Bayern eine gute Nachricht sein können. Tatsächlich bedeutete sie das Gegenteil. Wenn schon ein Ronaldo drastisch unter seinen Möglichkeiten bleibt und auch der Rest der Mannschaft sein Potenzial so sparsam nutzt, dass Toni Kroos das gnädige Fazit zog, man habe „aus dem Spiel das Maximum rausgeholt“ – was droht dann erst, wenn sie mal richtig gut drauf sind?

Real wird gerne das „weiße Ballett“ genannt, aber abgesehen von den Heimtrikots ist diese Bezeichnung unangemessen. In Wahrheit ordnen die Königlichen Kunst und Eleganz in wichtigen Spielen einem strengen Pragmatismus unter. „Die Leute wollen, dass wir auswärts immer 3:0 gewinnen“, klagte Kapitän Sergio Ramos. Der beinharte Innenverteidiger, der die Bayern schon oft das Fürchten lehrte, kann mit dieser Sichtweise wenig anfangen.

„Klar ist, dass wir besser spielen können“, sagte Weltmeister Kroos, klang dabei aber keineswegs bekümmert. Obwohl Real in München über weite Strecken des Spiels kaum Torchancen hatte, strahlte es stets eine latente Gefahr aus. Dazu kam eine Eiseskälte, die man in diesem Stadion selten erlebt. Joshua Kimmichs Führungstor, mitten hinein in eine Phase spanischer Dominanz, schien den Gästen völlig egal zu sein. Ihre individuelle Klasse verschafft ihnen auch in solchen Spielen die Gewissheit, dass sich Chancen von allein einstellen. Man muss sie dann nur nutzen, anders als die Bayern.

Die Münchner nehmen für sich in Anspruch, die „bestia negra“ der Madrilenen zu sein, ihre schwarze Bestie, vor der man sich aus gutem Grund in Acht nehmen sollte. Angesichts von drei Champions League-Titeln in den vergangenen vier Jahren und dem möglicherweise dritten Erfolg in Serie im direkten Vergleich (nach 2014 und 2017) könnte das aber viel eher Real von sich behaupten. Wenn sich beide Teams zuletzt begegneten, gab es nur für eine Partei etwas zu lachen. Dazu passt, dass die Gäste am Mittwoch tiefschwarze Trikots trugen. In der Mode ist diese Farbe ein Klassiker, im Fußball aber steht sie für ein Maximum an Extravaganz und Selbstbewusstsein.

Viel konsequenter als die Bayern, die der heimischen Liga seit Jahren entwachsen sind und doch mit dem Siegen niemals aufhören, fokussiert sich die Mannschaft von Trainer Zinedine Zidane in dieser Saison auf die Königsklasse. Real musste den mit Abstand schwierigsten Weg aller Halbfinalisten zurücklegen (K.o.-Spiele gegen Paris St. Germain und Juventus Turin). Obwohl sie gegen die Italiener am Rande einer Blamage standen und erst von einem dubiosen Elfmeterpfiff in der Nachspielzeit gerettet wurden, gibt es keinen Grund, an ihrer Entschlossenheit zu zweifeln. Die Münchner Selbstkritik, man brauche im Rückspiel eine andere Mentalität, ist indirekt das größtmögliche Lob für den Gegner. Sie hätten auch sagen können: Wir müssen spielen wie Real.

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