Das Momentum der Bayern kippt

Heynckes’ Wahl der Qual

von Redaktion

Ein passendes Bild zu diesem Abend hatte es eigentlich schon gegeben. Aber: Es gab noch ein besseres. Dass Arturo Vidal mit Knie-Orthese und auf Krücken in Richtung Kabine humpelte und auf dem Weg mit den verletzten Kingsley Coman und David Alaba abklatschte, während Niklas Süle über die Verletzungen von Arjen Robben und Jerome Boateng sowie den angeschlagenen Javi Martinez referierte, war scheinbar nicht genug gewesen. Erst als Hans-Wilhelm Müller Wohlfahrt mit wehendem Haar um kurz vor Mitternacht durch die Interview-Zone sprintete, wussten auch die letzten Beobachter: Es brennt bei den Bayern lichterloh.

Ein Geheimnis ist es nicht, dass der 75-Jährige sich ungemein darüber freut, nach knapp dreijähriger Abstinenz wieder der Arzt des Bayern-Vertrauens zu sein. Einen derart arbeitsintensiven Abend wie am Mittwoch – und einen darauffolgenden Tag wie den gestrigen – hat er sich aber mit Sicherheit nicht gewünscht. Keine halbe Stunde dauerte es im Halbfinal-Hinspiel der Champions League gegen Real, bis aus den Bayern, die ja so viel besser drauf sind als im Vorjahr, die Bayern geworden waren, die sich nun durch den Saisonendspurt schleppen müssen und aus dem letzten Loch pfeifen.

So bitter diese Blitz-Entwicklung für Jupp Heynckes und sein Team war – sie zeigte mal wieder auf, wie wenig das viel zitierte „Momentum“ auf diesem Niveau zählt. Monatelang wurde darüber gesprochen, dass es nur darum gehe, „im Frühjahr auf Top-Niveau“ zu sein, bis dahin „alle Mann an Bord“ zu haben und „aus dem Vollen schöpfen zu können“. Bevor die öffentlichen Äußerungen vor einigen Wochen übergingen in: „Die Bayern in Gala-Form“, „Heuer ist alles anders“ und „Wir sind bereit“. Einen Vorwurf kann man daraus niemandem machen, denn genau so wirkte es ja. Aber halt nur bis zum Anpfiff.

Kommende Woche in Madrid wird ein Team auf dem Platz stehen, das alles andere als Heynckes’ Wunschformation ist. Eines, in dem womöglich die angeschlagenen Alaba und Tolisso stehen müssen. In dem anstelle des „Kriegers“ Arturo Vidal der Feingeist Thiago aufläuft. In dem Thomas Müller rechts startet und Franck Ribery auf links die einzige Option ist. Statt der Qual der Wahl hat der Coach die Wahl der Qual. Dass trotzdem kollektiv Hoffnung herrscht, spricht für Bayerns Tapferkeit. Dass sie auch noch berechtigt ist, für die Qualität des Kaders.

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