München – Die Kabinen in der Allianz Arena sind weit genug auseinander, die Gänge durch Türen getrennt, Geheimnisse, Stimmungen oder gar Worte dringen also weder von links nach rechts noch von rechts nach links. Und trotzdem musste Thomas Müller nicht unbedingt ein Hellseher sein, um zu erahnen, was in den heiligen Räumen von Real Madrid in der Zeit zwischen Abpfiff und kurz nach Mitternacht vorging. „Die sitzen jetzt da und wissen selbst nicht, wie sie 2:1 gewonnen haben“, sagte der Bayern-Stürmer. Der entscheidende Satz folgte postwendend: „Aber sie haben es.“ Und genau das ist das Problem.
Die Stimmung in der Bayern-Kabine sah nach dem 1:2 im Halbfinal-Hinspiel der Champions League freilich anders aus. Das konnten Außenstehende erahnen, als unter anderem Mats Hummels und Robert Lewandowski im Eiltempo und schweigend von dannen zogen. Und das schilderten auch jene, die live dabei waren. Da wurde gesprochen über mögliche Diagnosen der beiden Verletzten Arjen Robben und Jerome Boateng. Da saß ein niedergeschlagener Rafinha, der mit einer Unachtsamkeit den Weg zum 1:2 durch Marco Asensio geebnet hatte. Da ärgerte sich die Offensiv-Reihe um Müller, Franck Ribery und Robert Lewandowski über im halben Dutzend vergebene Chancen. Alles in allem: Da wurde ein bitterer Abend verdaut.. „Die Laune“, sagte Boateng-Ersatz Niklas Süle, „ist bescheiden.“
Man konnte diese Gemütslage zu gut verstehen, denn nicht nur die Bayern selbst hätten ein „5:2“ (Süle) oder gar ein „7:2“ (Joshua Kimmich) in dieser einseitigen Partie durchaus für möglich gehalten. Nur: 17:7 Torschüsse, 10:3 Ecken, 60 Prozent Ballbesitz helfen wenig, wenn man vorne glücklos agiert und hinten „zwei Eiertore“ (Süle) kassiert. „Wir müssen sauer auf uns selbst sein, das ist enttäuschend“, sagte Müller, der sich über die „eigenen Unzulänglichkeiten“ schwarz ärgerte. So viele Möglichkeiten – sowohl zum 2:0 als auch später mindestens zum 2:2 – habe man „nicht mal am Wochenende in Hannover bekommen“, stellte Kimmich treffend fest. Da aber nur ihm selbst gelungen war, den Ball auch im Tor unterzubringen (28.), müssen die Bayern ernsthaft – und eigentlich unverdient – um die erste Endspiel-Teilnahme seit dem Titelgewinn 2013 bangen. Müller: „Wir haben Real leben lassen.“
Mindestens ein 2:0 ist am Dienstag im Bernabéu-Stadion nötig, um weiter vom Triple zu träumen. „Die Ausgangssituation ist nicht gut“, sagte Kimmich. Um genau zu sein, ist sie genau so ungut wie im Viertelfinal-Duell mit Real in der vergangenen Saison. Auch da verloren die Münchner daheim mit 1:2, schieden eine Woche später in der spanischen Hauptstadt aber letztlich erst mit viel Schiedsrichter-Pech und nach Verlängerung aus. Für eine ähnliche Vorstellung müsse man nun „die Ruhe bewahren“, mahnte Hasan Salihamidzic, Süle appellierte an seine angefressenen Mitspieler, „uns jetzt nicht gegenseitig dumm anzumachen“. Zumal die ausführliche Analyse ja gestern den ersten Eindruck bestätigt haben dürfte. Real war „eiskalt“ (Brazzo), mehr aber auch nicht.
Die kollektive Meinung – „wir haben gesehen, dass Real verwundbar ist“ – soll nun alle in dem Glauben bestärken, den Kimmich ausformulierte: „Vorbei ist es nicht.“ Nicht die Ausfälle von Arjen Robben und Jerome Boateng (siehe Texte unten) wurden als Ausreden für die Niederlage herangezogen, sondern die „Naivität“ (Kimmich) in der Chancenverwertung. Natürlich, „die beiden Verletzungen nehmen uns Optionen“, sagte Müller. Aber auch so waren die Bayern dem Vorjahres- und Vorvorjahres-Sieger derart überlegen, dass Hoffnungen berechtigt sind.
Süle etwa – bis zu dieser Saison eifriger Beobachter von außen – hat „noch nie so ein schwaches Real gesehen“. Überhaupt fand der Ex-Hoffenheimer nach seinem Kaltstart die klarsten Worte zu diesem bitteren Abend. Auf die Frage, wie groß der Glaube ans Weiterkommen sei, entgegnete er: „Was glauben Sie denn, was die Journalisten die Juve-Spieler nach dem Hinspiel gefragt haben?“ Der Geist von Turin, das im Viertelfinale in Madrid bis kurz vor Schluss 3:0 geführt hat, treibt die gebeutelten Bayern nun bis zum Showdown am Tag der Arbeit an.
Weil man das Selbstverständnis „wir sind Bayern München“ (übersetzt: mia san mia) im Torabschluss vermisst hatte, sprach Süle es lieber noch mal aus. Und in der Kabine hatte der Wortführer des Abends übrigens „keinen negativen Kommentar“ vernommen. Ein paar Meter weiter, dort, wo Real darüber rätselte, wie dieser Sieg gelungen war, wurden wahrscheinlich mehr Fehler analysiert.
Aber auch Tore bejubelt.