Der Letzte war David Alaba. Niemand aus der Jugend des FC Bayern hat es nach ihm geschafft, sich nachhaltig bei den eigenen Profis zu etablieren. Dabei galt der Bayern-Nachwuchs einst als sprudelnde Talentquelle, das DFB-Team, das 2014 in Rio Weltmeister wurde, lebte von Spielern, die an der Säbener Straße ausgebildet worden waren: Philipp Lahm, Mats Hummels, Thomas Müller, Toni Kroos, Bastian Schweinsteiger, der Titel war auch ein Ritterschlag für die Talentschmiede der Bayern.
Nicht bei allen war diese Entwicklung früh abzusehen. Müller brauchte einen längeren Anlauf über die U23, Hummels hatte keiner, der ihn in der U15 spielen sah, auf der Rechnung. Schweinsteiger profitierte auch von einer Sternstunde im Finale der A-Junioren 2002, als er, vor den Augen von Beckenbauer, Hoeneß und Hitzfeld, alle vier Tore zum 4:0 gegen den VfB Stuttgart vorbereitet hatte. Dabei war er noch im Halbfinale gegen Dortmund aus der Mannschaft geflogen, er sollte, wie Trainer Kurt Niedermayer damals erklärte, „seine Einstellung überdenken“.
Entscheidend sind Mentalität und Glück
Das hat er wohl getan, so gründlich, dass er dann auch seine plötzliche Chance bei den Profis in aller Konsequenz nutzte. Neben Glück nämlich ist die Mentalität der entscheidende Faktor auf dem Weg zum Profi. Philipp Lahm hat das so beschrieben: „Ich glaube, Ehrgeiz allein genügt nicht, Disziplin allein genügt auch nicht. Es braucht diesen Spaß am Spiel, dieses erfüllende Gefühl, sobald du auf dem Platz stehst, das Nicht-mehr-an- die-Freunde-Denken, die jetzt beim Schwimmen sind. Der Ball, du, das Tor, deine Welt.“
Und dann benötigt man eben noch das Glück. Im entscheidenden Moment da zu sein, wie damals Schweinsteiger. Die richtigen Förderer zu haben, wie Hummels und Müller mit Hermann Gerland. Berater zu haben, die nicht auf das schnelle Geld, sondern die kontinuierliche Entwicklung schauen. Alaba hätte überall hingehen können, die englischen Klubs haben sich um ihn gerissen, er hat sich für die Bayern entschieden, wo er in Werner Kern, dem damaligen Nachwuchschef, einen Mentor hatte, der es verstand, ihn trotz aller Erfolge auf dem Boden zu halten. „Noch habe ich nichts erreicht“, sagte Alaba ganz demütig selbst nach seinem Länderspiel-Debüt, das den damals 17-Jährigen zum jüngsten A-Nationalspieler aller Zeiten in Österreich machte. Bei Bayern spielte er noch für die U23 in der 3. Liga. Sein Weg aber war vorgezeichnet.
Seither aber ist die Talentquelle bei Bayern zwar nicht völlig versiegt, nur eben sprudelt sie nicht mehr ganz so munter. Von der U19, die 2012 unter Trainer Kurt Niedermayer das deutsche Finale der A-Junioren erreicht hatte, spielt heute allein Alessandro Schöpf, wie Alaba Österreicher, in der Bundesliga, beim damaligen Endspielgegner Schalke 04. Benno Schmitz steht zwar im Kader von RB Leipzig, kommt aber bisher nur auf magere 81 Einsatzminuten. Kevin Friesenbichler hat es zumindest in die österreichische Bundesliga geschafft, der Rest kickt heute zweit-, dritt- und viertklassig in Deutschland oder hat sich aus dem Fußball zurückgezogen. „Du wirst sehr schnell hochgejubelt und sehr schnell verglichen. Die Gefahr ist, dass viele Talente sich dann besser sehen, als sie schon sind. Ich kenne welche, die sind daran zerbrochen“, sagte neulich Julian Weigl in der SZ.
Eine Ausbildung beim FC Bayern ist sicher eine gute Basis, aber eben längst noch keine Garantie für eine Profikarriere. Manchmal ist der Weg über ein anderes Nachwuchsleistungszentrum der bessere: Janik Haberer, heute Erstligaprofi in Freiburg, hat es in Unterhaching geschafft, wo er in Ruhe reifen konnte. Florian Niederlechner, heute Haberers Teamkollege, hat die letzten Jugendjahre gar nicht in einem NLZ, sondern in Ebersberg verbracht, ist dann über Falke Markt Schwaben, Ismaning und Unterhaching zum Bundesliga-Profi geworden. Mit 24. Solche Karrieren aber sind absolute Ausnahmen, zumal Niederlechner noch einen nicht unbedeutenden Makel hatte: Er ist Ende Oktober geboren. Und war damit praktisch ohne Chance, auf höchstem Niveau gefördert zu werden.
Viele Talente gehen verloren
Das hochgelobte deutsche Ausbildungssystem hat nämlich einen Haken: Zu sehr wird noch immer der momentane Erfolg in den Mittelpunkt gerückt statt der individuellen Förderung echter Talente. Anders ist es nicht zu erklären, dass in den drei höchsten Jugendteams des FC Bayern, der U19, U17 und U16, von insgesamt 73 Spielern 42 im ersten Quartal geboren sind, ganze sieben im letzten, dass die deutschen Junioren-Nationalteams fast ausschließlich mit Spielern bestückt sind, die im ersten Quartal Geburtstag feiern. Daraus lässt sich schließen: Man schaut beim Scouting vor allem auf die aktuelle Leistungsstärke. Nimmt die Spieler eines Jahrgangs, die in der Entwicklung voraus sind. Weil man Siege will, schon bei den Jüngsten. Das ist fatal. „Wir vernichten Talente“, sagt David Niedermeier von der Münchner Fußballschule, „ein Riesenpotenzial geht verloren.“ Weil sie nicht so gefördert werden wie ihre ein paar Monate älteren Kollegen. Und aufgeben.
Dieser Entwicklung entgegensteuern sollen in Bayern die Nachwuchsleistungszentren des BFV. 18 davon gibt es, zwei in Oberbayern. Sie sollen ein Vakuum füllen zwischen den Basisstützpunkten und den Nachwuchsleistungszentren der Profiklubs. „Jeder junge Spieler kann sich nur dann weiterentwickeln, wenn er sich wohlfühlt“, glaubt Peter Wimmer, der als südbayerischer Stützpunktkoordinator die BFV-Zentren mit entwickelt hat. Um auch jenen eine möglichst optimale Förderung zu geben, die spät im Jahr geboren oder körperlich noch zu schwach sind, nicht zu früh Familie und Freunde verlassen wollen und eine heimatnahe Ausbildung bevorzugen. Julian Weigl, erst zur B-Jugend aus Rosenheim zu 1860 München gewechselt, ist diesen Weg gegangen. Heute ist er Nationalspieler und Stammspieler bei Borussia Dortmund.
Haching investiert viel in die Jugend
Weigl hat sich mit 11 für den DFB-Stützpunkt qualifiziert, wurde damit parallel zum Vereinstraining durch lizenzierte Trainer zusätzlich geschult, hat in Regional- und Bayernauswahl auf sich aufmerksam gemacht und sich schließlich für die Münchner Löwen entschieden, wo er zum Zweitligaprofi reifte. Andere, die etwa in der Region München leben, kommen schon früher in eines der drei Münchner NLZ, zu den Bayern, den Löwen oder nach Unterhaching, wo sich Präsident Manni Schwabl mit großer Hingabe der Talentförderung widmet.
„Unsere Profis sind nur ein Anhängsel unseres NLZ“, hat er mal gesagt und damit den Stellenwert klar unterstrichen. Der Vorteil, den etwa Haberer einst in Haching genossen hat, ist die Durchlässigkeit nach oben, die deutlich größer ist als etwa bei den Bayern, wo die Talente hoch dotierte Weltstars vor der Nase haben. Und wer als Jungspund in der 3. Liga auftaucht, ist begehrt: So sind neben Haberer auch Hufnagel, Zetterer, Hack und Redondo nach oben geklettert, auch für Voglsammer und Moll, die nach der Jugend gekommen waren, wurde Haching zum Sprungbrett. „Einen Königsweg gibt es nicht“, sagt Wimmer. Doch klar ist auch: Wer nicht an einem NLZ ausgebildet wurde, hat kaum mehr eine Chance.
Aber muss es schon mit acht sein? Von der F-Jugend kommt kaum mehr ein Talent beim FC Bayern bis in den höheren Leistungsbereich durch, schon bei D- und C-Junioren wird kräftig ausgesiebt, Talente aus ganz Deutschland und darüber hinaus werden geholt. Letzten Sommer kamen gleich drei 13-, 14-jährige Spieler von Hertha BSC Berlin ins nagelneue Bayern-Internat. Es gibt einen riesigen Hype um Talente, dabei ist eine genaue Prognose bei 14-Jährigen noch fast unmöglich, glaubt der Ex-Profi Uwe Harttgen, der bei der DFL die Kommission Leistungszentren leitet: „Häufig entscheidet sich erst zwischen 17 und 21 Jahren – je nach Entwicklungsstand –, in welche sportlichen Bereiche der Spieler vordringen kann.“ Virtuose Ballbehandlung allein reicht halt einfach nicht.
Was ist eigentlich ein Talent?
Auch die Wissenschaft tut sich schwer, Talent genau zu definieren. Der Sportwissenschaftler Winfried Joch hat es mal so versucht: „Talent besitzt, oder ein Talent ist, wer auf der Grundlage von Dispositionen, Leistungsbereitschaft und den Möglichkeiten der realen Lebensumwelt über dem Altersdurchschnitt liegende (möglichst im Wettkampf nachgewiesene) entwicklungsfähige Leistungsresultate erzielt, die das Ergebnis eines aktiven, pädagogisch begleiteten und intentional durch Training gesteuerten Veränderungsprozesses darstellen, der auf ein später zu erreichendes hohes (sportliches) Leistungsniveau zielstrebig ausgerichtet ist.“
Um aber das Talent zum Profi werden zu lassen, braucht es neben all den beschriebenen Eigenschaften wohl vor allem das, was Philipp Lahm favorisiert: Diesen Spaß am Spiel, die totale Hingabe, die Fixierung auf den Fußball, der am Ende wichtiger sein muss als alles andere. Und dann noch die nötige Portion Glück.