Madrid – In einem anderen Kulturkreis würde man jetzt zumindest vorsichtig hinter vorgehaltener Hand flüstern, welcher grausame, faule Zauber in diesem Strafraum des Bernabeus herrscht, der sich links von der Haupttribüne befindet. Man hört so einiges aus Afrika über obskure Rituale und Vereine, die eigene Schamanen beschäftigen, um dem Gegner zuzusetzen – das königliche Real Madrid ist aber freilich über solche Verdächtigungen erhaben. Dennoch suchte die Bayern das Schicksal dort schon zwei Mal bestialisch heim. Letztes Jahr brach Manuel Neuer sein Mittelfußbruch. Diesmal leistete sich Sven Ulreich einen Lapsus, der das Champions League-Finale kostete.
Das Schicksal hat am Dienstagabend in Sven Ulreich einen besonders tragischen Helden ausgewählt, jeder Dichter im alten Griechenland hätte seine helle Freude an diesem Erzählstoff gehabt. Es ging ja gar nicht darum, dass sich der 29-Jährige eine spektakuläre Fallhöhe erarbeitet hatte, vom anfangs argwöhnisch beobachteten Ersatz des Weltbesten zu einer fast ebenbürtigen Kopie desselben. Hätte Ulreich sich einen für Torhüter gängigen Patzer erlaubt, eine Flanke unterlaufen, einen Ball prallen lassen, einen Schuss unterschätzt, hätte sein Scheitern nicht diese Dimension erreicht. Auch am Dienstag hielt er fehlerlos, ehe dann das Schicksal zuschlug. Der Rückpass von Corentin Tolisso war sicher fragwürdig, aber er war zu klären. Die spanische Zeitung „AS“ schrieb, es sei „eine komödiantische Einlage“ gewesen. Lachen konnte freilich nur Real Madrid.
Gestern meldete sich Ulreich via Instagram. Im Bernabeu hatte er nicht gesprochen, weil er zur Dopingprobe ausgelost wurde. Worte könnten nicht beschreiben, wie er sich fühle, ließ er wissen. „Wir wollten unbedingt in dieses Finale, haben unser Bestes gegeben – und dann passiert mir dieser unnötige Fehler. Ich kann es mir nicht erklären. Es tut mir leid . . . für mein Team und für euch Fans.“ Es fällt schwer, den 29-Jährigen nicht zu mögen. Javi Martinez antwortete auf den Post umgehend: „Du hast uns schon so oft den Hintern gerettet.“ Keine Vorwürfe.
Was in diesem Moment unmittelbar nach Anpfiff zur zweiten Halbzeit in Ulreich gefahren war, wird ein Mysterium der Fußballgeschichte bleiben. „Sven hat eine ganz tolle Saison gespielt“, sagte Jupp Heynckes, „er hat einfach einen Blackout gehabt. Als ich die Fernsehbilder gesehen habe, habe ich den Eindruck gehabt, dass er den Ball mit den Händen aufnehmen wollte und dann gemerkt hat, das geht ja gar nicht. Und dann ist er konfus geworden.“ Den Pass von Tolisso verurteilte der Coach weniger empathisch: „Der war unnötig.“
„Das ist die größte Enttäuschung meiner Karriere“, sagte Tolisso über das Aus. Im letzten Jahr hatte er im Halbfinale mit Lyon in der Europa League verloren, aber diesmal sei es härter gewesen. „Wir waren da bei diesen zwei Begegnungen, es kam auf Details an“, klagte er. Details wie wacklige Rückpässe.
Allerdings gilt für Tolisso das Gleiche wie für Ulreich und sogar für Rafinha im Hinspiel: Sie alle hatten gut gespielt, es wäre zu leicht, ihnen die Klasse abzusprechen. Das Trio spekuliert auch noch mit der WM, doch Tolisso ist wohl der Einzige mit realistischen Chancen. „Wir müssen immer nach vorne schauen“, sagte er, „wir wollen jetzt unbedingt den Pokal gewinnen. Und dann wird es die WM geben. Ich denke, wir können da sehr weit kommen.“ Wobei das Schicksal einem auch immer gewogen sein muss. Das haben die Bayern mal wieder schmerzlich erfahren.