München – Vor zwei Jahren stemmte er sich noch mit dem TSV 1860 gegen den Absturz in die 3. Liga (damals erfolgreich) – jetzt ist Christopher Schindler eine feste Größe in der Premier League, hat mit Aufsteiger Huddersfield sensationell den Klassenerhalt geschafft und erntet Lob von allen Seiten. Seine Mitspieler wählten Schindler, 28, zum Profi des Jahres. Der Ex-Löwe hat sich auch für größere Klubs in Stellung gebracht. Wir sprachen mit dem gebürtigen Münchner über sein Abenteuer England und auch über seinen Ex-Klub 1860, der nächste Woche um den Aufstieg in die 3. Liga kämpft.
-Herr Schindler, vorigen Sonntag war große Nichtabstiegsparty bei Huddersfield Town. Muss man sich das vorstellen wie die Fußballfeiern hierzulande, mit viel Bier, äußerlich und innerlich?
Es war noch mal ein toller Anlass. Letztes Heimspiel gegen Arsenal, wir haben wieder ganz ordentlich gespielt – nur das Ergebnis hat nicht gepasst (0:1/Red.). Die Fans sind trotzdem brutal mitgegangen. Hinterher haben wir dann eine Art Ehrenrunde gemacht, da waren auch die Familien mit auf dem Feld, meine Frau, unsere Tochter. In einem Club ist danach noch weitergefeiert worden, aber nicht so wild. Wir Spieler sind ziemlich leer und ausgelaugt. Diese Saison ist stark an die Substanz gegangen. Es wird auch ein Weilchen dauern, das alles zu verarbeiten.
-Als Aufsteiger hat Huddersfield den Klassenerhalt vorzeitig gesichert, durch zwei Unentschieden bei den Topclubs Chelsea und ManCity. Vermutlich waren das noch mal zwei arbeitsreiche Tage für Sie als Innenverteidiger . . .
Das kann man so sagen. Nachdem Southampton noch mal gewonnen hatte (1:0 bei Swansea), standen wir gewaltig unter Druck, mussten also noch was holen in den letzten Spielen. Dass wir dann bei Chelsea ein 1:1 mitnehmen, damit war wirklich nicht zu rechnen. Es ging schließlich noch um die Champions League für die. Für mich noch mal ein absoluter Höhepunkt. Einfach phänomenal, dass wir es am Ende aus eigener Kraft geschafft haben.
„Wie Wagner auf mich gekommen ist? Keine Ahnung!“
-Und zuvor beim 0:0 Manchester City die finale Meisterparty verdorben?
Naja, die wollten halt vor eigenem Publikum ihren Punkterekord ausbauen, ihren Torrekord, hatten die drei Punkte natürlich fest eingeplant. So gesehen konnten wir ihnen ein bisschen in die Suppe spucken. Vom Ballbesitz her waren wir richtig unterlegen, aber wir hatten auch ordentliche Möglichkeiten, sogar mehr Torschüsse als die City-Offensive mit ihren über 100 Toren in der Saison.
-Was war das größere Wunder: der Aufstieg im Jahr davor? Oder jetzt der Klassenerhalt?
Ich würde sagen, jetzt die Klasse zu halten, war das größere Wunder. Unser Etat ist halb so hoch wie der zweitniedrigste in der Premier League. Das hab ich zumindest mal gelesen. Und trotzdem müssen wir uns auf dem Platz mit diesen Spielern messen. Das haben wir gemacht. Darauf kann man stolz sein und es auch als Wunder bezeichnen. Es macht auch Lust auf mehr, ehrlich gesagt.
-Wie erklären Sie sich den Höhenflug eines Clubs, dessen FA-Cup-Siege in den 20er/30er-Jahren die letzten nennenswerten Erfolge waren?
Einen Riesenanteil hat sicher der Trainer. David Wagner ist mit einer Idee gekommen, hat die Leidenschaft zurückgebracht und dem ganzen Club neues Leben eingehaucht. Egal, welchen Fan du fragst, jeder sagt: Die letzten zwei Jahre waren mit Abstand die schönsten. Das ist schon cool, wenn man so etwas hört. Vor allem, wenn man weiß, wie schnell es auch in die andere Richtung gehen kann.
-Wie kam es eigentlich, dass Wagner als eine seiner ersten Handlungen Sie geholt hat?
Ganz ehrlich: Ich hab nicht die geringste Ahnung. Ich hab ihn selber erst kürzlich gefragt, weil das ja für ihn kein einfacher Transfer war; er war neu im Klub, im Ausland – und hat dann gleich für mich eine Rekordablöse gezahlt (2,3 Millionen Euro/Red.). Irgendwie stand er ja auch unter Druck, dass der Transfer das Geld wert ist. Er meinte aber nur: Er kannte mich noch aus der Jugend, als er Nachwuchstrainer bei Hoffenheim war und ich Nachwuchsspieler bei 1860. Offenbar hat er sich das gemerkt.
-Und plötzlich treffen Sie wöchentlich auf die Topstars der Fußballszene. Müssen Sie sich noch manchmal zwicken?
Die Vorfreude auf die Spiele ist schon immer noch brutal hoch, keine Frage. Im Spiel selber interessieren mich die Namen dann aber gar nicht mehr. Für mich ist das nicht Aubameyang, gegen den ich spiele, sondern ein schneller, trickreicher Stürmer, den du nach Möglichkeit daran hindern musst, hinter die Kette zu kommen. So kategorisiere ich meine Gegenspieler. Erfolge und Namen sind mir da egal, mich interessiert ausschließlich der Spielertyp.
-Sie waren ja auch bei 1860 Führungsspieler, sogar Kapitän. Trotzdem dürften Sie seitdem noch mal einen Entwicklungssprung gemacht haben.
Auf jeden Fall. Im ersten Jahr vor allem körperlich – da hab ich allein fünf Kilo Muskelmasse zugelegt. Seit dem Aufstieg aber auch noch mal. Wenn du jede Woche gegen die Besten der Welt spielst, dann veränderst du dein Spiel natürlich. Du versuchst, mit einer ganz anderen Souveränität auf dem Platz zu stehen, weil du auch gar keine andere Wahl hast. Deswegen würde ich schon sagen, dass ich leistungsmäßig einen absoluten Schub gemacht habe.
-Sie treffen auch jede Woche interessante und schillernde Trainer: Jürgen, Klopp, Jose Mourinho, Pep Guardiola. Wie sind die so im Umgang?
Einen richtigen Draht hat man da nicht. Gerade im ersten Jahr hat man gemerkt, dass wir als Huddersfield irgendwie ein weißes Papier für die waren. Auch zu den großen Spielern hat man nicht wirklich einen Draht, die verkehren in ganz anderen Sphären. Mit denen hat man vor allem auf dem Platz zu tun.
-Spüren Sie da Überheblichkeit? Oder sind diese Duelle – typisch britisch – von Respekt geprägt?
Bemerkenswert fand ich vor allem Harry Kane. Gegen so ein Kaliber versucht man natürlich, etwas härter ranzugehen, und wie der damit umgeht – so etwas hab ich vorher noch nicht erlebt.
-Wie nämlich?
Du versuchst halt auszustrahlen: Heute wird es eng für dich! Aber das hat den überhaupt nicht interessiert. Der ist so abgeklärt, steht so über den Dingen. Er hat auch nie beim Schiedsrichter lamentiert. Stattdessen kam er nach einem Zweikampf und sagte zu mir: Nice Tackling oder so. Und dann haut er dir trotzdem ein, zwei Tore rein.
-Ein Vollprofi?
Absolut. Der hat keinerlei Emotionen gezeigt, sich von nichts beeindrucken lassen. Aber Tottenham hat überhaupt eine Wahnsinnsmannschaft. Auch Heung-min Son, der ja früher mal in Leverkusen war. Das ist für mich einer der meist unterschätzten Spieler überhaupt.
-Bis zum dritten Spieltag lagen Sie als Aufsteiger gleichauf mit Manchester United an der Tabellenspitze. Wurde Ihr Klub da bereits als das neue Leicester gehandelt?
Mag sein, aber wir als Mannschaft konnten das einordnen. Wir hatten auch die Phase einkalkuliert, wo’s nicht mehr so gelaufen ist. Wir haben da keinen Druck gespürt, auch keine Nervosität von den Rängen. Jeder wusste immer: Wir müssen uns in jedem Spiel strecken, um überhaupt einen Punkt zu behalten.
-War das am Ende auch der Trumpf Ihres Klubs im Abstiegskampf?
Ich denke schon. Als wir am viertletzten Spieltag gegen Everton verloren hatten, da haben alle gedacht: Okay, jetzt ist es vorbei, weil wir noch City, Chelsea und Arsenal hatten, zwei davon auswärts – und trotzdem haben wir’s noch hingekriegt.
-Ein weiteres Highlight war sicher der 2:1-Heimsieg gegen Manchester United am 9. Spieltag.
Ja, vor allem für die Fans. Die kamen nach dem Spiel glückselig und haben gesagt: Jetzt ist es egal, wenn ihr absteigt. Ihr habt gegen United gewonnen, das ist unglaublich! Für den Klub, die Fans und das ganze Umfeld ist es das Größte, sich überhaupt mit denen messen zu dürfen.
-Es scheint auf jeden Fall ein guter Spirit in Ihrem Team zu stecken.
Auf jeden Fall. Keiner nimmt sich zu wichtig in der Kabine, jeder kann seine Meinung sagen; egal, wo er herkommt, ob aus Australien, Deutschland, England, Dänemark. Trotzdem gibt es Führungsspieler, eine gewachsene Hierarchie. Auch wir als deutsche Kolonie haben uns nicht aufgeführt im Wissen, dass der Trainer Deutscher ist. Nein, wir haben uns brav hinten angestellt, und ich glaube, das zahlt sich heute noch aus.
-Deutsche Kolonie, damit meinen Sie Ihre Mitspieler Chris Löwe, Collin Quaner und den früheren Hachinger Michael Hefele. Haben die Ihnen die Eingewöhnung erleichtert?
Auf jeden Fall. Bei mir stand der Transfer relativ spät fest, die anderen hatten da schon Zeit, sich alltägliche Dinge anzueignen wie Telefon, Internet, Wohnung, Haus. Das hat mir schon sehr geholfen.
-Bei den Löwen hatten Sie in Ihren letzten beiden Jahren das Gegenteil erlebt: Abstiegskampf, negativen Druck, interne Querelen. Mussten Sie erst neu lernen, dass Fußball auch Freude machen kann?
Fußball hat damals schon auch Freude gemacht, aber speziell gegen Ende wurde der Druck immer größer. Wir hatten ja einige Neuanfänge, aber die Ergebnisse kamen einfach nicht. Das ist für mich der gravierendste Unterschied: Leicht war es hier am Anfang auch nicht für mich, aber es lief halt, sportlich.
-Wie dankbar sind Sie, dass Sie den Absprung geschafft haben?
Ich sehe es in einem größeren Kontext. Im Leben ist es halt manchmal so, dass man eine Entscheidung trifft, die nicht leicht fällt. Weiß Gott nicht leicht. München ist meine Heimat, meine Eltern und auch die Eltern meiner Frau leben dort. Dann ringst du dich durch, was ganz anderes zu machen – und dann kommt auf einmal so was bei raus! Ich habe fürs Leben gelernt, dass man sich einlassen muss – damit auch aus etwas vermeintlich Unspektakulärem etwas unglaublich Großes entstehen kann. Natürlich hätte es auch in die andere Richtung gehen können, aber bereuen tu’ ich es natürlich nicht.
„Mein Gedanke war: Oh Gott, wo bin ich hier gelandet?“
-Erinnern Sie sich an Ihre Gedanken, als Sie das erste Mal nach Huddersfield geflogen sind? Haben Sie da gedacht: Was mache ich hier eigentlich?
Ja, genau so. Ich hab mir das Trainingsgelände angeschaut. Das ist ganz, ganz einfach – inzwischen wahrscheinlich gerade mal zweitligareif. Da ist kein unnötiger Schnickschnack, alles auf Funktionalität ausgerichtet. Damals habe ich wirklich gedacht: Oh Gott, wo bin ich hier gelandet? Aber aus irgendeinem Grund hatte ich ein Lächeln auf den Lippen, als ich zurück zum Flughafen gefahren bin, nach einem ersten Treffen mit dem Trainer. Aus dem Bauch heraus haben meine Frau und ich dann entschieden: Okay, machen wir!
-Wie intensiv verfolgen Sie denn noch die Entwicklung beim TSV 1860?
Ich verfolge die Spiele schon, vor allem die Ergebnisse. Mit den Livestreams ist es ein bisschen schwierig hier in England. Ich schreibe auch mit Markus Ziereis, den ich besser kenne. Es interessiert mich nach wie vor, aber ein bisschen verläuft sich das natürlich – auch durch unseren intensiven Spielrhythmus.
-Sie haben jetzt Urlaub, den Sie vermutlich in der alten Heimat verbringen. Planen Sie auch einen Besuch des Relegationsrückspiels gegen Saarbrücken?
Ja, klar. Das Ticket hab ich schon. Ich darf aber meine Quelle nicht verraten (lacht).
-Ihr Tipp? Schaffen es die Löwen?
Das hoffe ich natürlich, aber so nah bin ich nicht mehr dran, um das einschätzen zu können. Für den Verein und das ganze Umfeld wäre der Aufstieg sicher wichtig – wobei ich auch da zu weit weg bin, um mir ein Bild von der Vereinspolitik und der Gemütslage zu machen. Sollte noch alles so sein wie zu meiner Zeit, dann dürfte der Druck nicht gering sein.
Daniel Bierofka? „Für mich ein Toptrainer!“
-Hätten Sie Daniel Bierofka zugetraut, dass er aus dem Trümmerhaufen nach dem Doppelabstieg so schnell einen Regionalliga-Meister formt?
Ja, ganz klar. Er hatte seine Sache auch schon überragend gemacht, als er bei uns übergangsweise in der Verantwortung stand (und mit drei Siegen in drei Spielen 2016 den Klassenerhalt sicherte/Red.). Ich war mir damals schon sicher, dass er ein Toptrainer ist. Gerade in der stürmischen Zeit, als es drunter und drüber ging, war ich gottfroh, dass er da war. Er war eine der wenigen Konstanten.
-Erfolgreich ist Bierofka auch im Einsammeln von verlorenen Söhnen: Mölders, Gebhart, Wein, Steinhart, Ziereis . . . Auch bei Ihnen dürfte eines Tages das Telefon klingeln, oder?
Ich weiß nicht. Im Moment sind das verschiedene Welten. Weniger wegen der Ligazugehörigkeit, aber ich kann mir gerade eigentlich nicht vorstellen, aus der Geschichte hier rauszugehen . . .
-Also heißt es für Sie weiterhin: England statt Englischer Garten?
Ich bin jetzt 28, habe noch x Jahre zu spielen, aber keine unendlich lange Zeit vor mir. Noch läuft mein Vertrag zwei Jahre – plus Option. Ich hab Bock auf Premier League, daher ist es mittelfristig keine Überlegung, zurück nach München zu gehen. Im Gegenteil. Mein nächster Vertrag wird ganz wichtig sein.
-In Huddersfield?
Ich halte Augen und Ohren schon offen. Wenn sich was ergibt, das für mich Sinn macht, muss man sich das überlegen. Mit der Wertschätzung, die mir gerade entgegengebracht wird, ist das schon eine super Situation.
-So, dass auch größere Klubs Interesse zeigen? Wie ist aktuell Ihr Status?
Was mich wirklich stolz macht, ist der Award für den Spieler des Jahres – gewählt klubintern, von meinen Mitspielern. Vizekapitän bin ich auch, aber speziell dieser Award bedeutet mir viel. Das ist ein Preis, den jeder haben will, da steckt ganz viel Anerkennung drin. Überragend!
-Und nächste Saison: Was für ein Ziel peilen Sie mit Huddersfield an?
Klasse halten, denke ich. Das zweite Jahr ist für einen Aufsteiger immer das schwierigste – auch hier in England.
Das Gespräch führte Uli Kellner