Zwischen zwei Welten

von Redaktion

Von Günter Klein

Claudemir Jeronimo Barreto, bekannter als Cacau, ist der Integrationsbeauftragte des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) – und er war in den vergangenen Tagen sehr gefragt. Er sollte sich äußern zum Treffen der Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und zu dem Symbolgehalt, den das Bild von den Trikotübergaben geschaffen hatte. Cacau urteilte kritisch über seine ehemaligen Mitspieler.

Er selbst ist so etwas wie der Lieblings-Integrierte der Deutschen. Obwohl es auch bei ihm einen Moment gab, an dem er sich nicht entscheiden wollte und konnte, wer er sich zugehöriger fühlt. Für die WM 2014 in Brasilien war er nicht mehr nominiert worden, er begleitete das Turnier dann als Land-und-Leute-Experte fürs Fernsehen. Als es aufs Halbfinale zwischen seinem Geburtsland und der Nation zuging, dessen Staatsbürgerschaft er fünf Jahre zuvor angenommen hatte und für das er die WM 2010 bestritten hatte, wollte er sich nicht festlegen, wem er den Sieg mehr wünsche. Er sagte nur: „Meine Gefühle spielen verrückt.“

Cacau war als unbekannter Brasilianer nach Deutschland gekommen, in der fünften Liga, bei Türk Gücü München, fing er an. Er schaffte es dann zum 1. FC Nürnberg, zum VfB Stuttgart. Er verbesserte sich fußballerisch, und sein Deutsch wurde so geschliffen, dass ihm die Teamkollegen den Spitznamen „Helmut“ verpassten – wie für einen, der der deutscheste aller Deutschen ist. Cacau gönnte sich auch noch eine Dritt-Identität. Er legte sie offen, als es vor einem Länderspiel in Stuttgart verriet, dass er viele Tickets bestellt hatte, sie aber nicht verschenken, sondern weiterverkaufen werde: „Da bin ich Schwabe.“

Cacau – und auch das mag dazu beigetragen haben, dass die Deutschen ihn mehrheitlich als herzig empfanden – sang vor Länderspielen auch stets die deutsche Hymne. Mit sicht- und hörbarer Hingabe.

Wenn über Integration im Sport diskutiert wird, dann geht es immer auch um das Verhalten bei der Hymne. In der deutschen Nationalmannschaft stehen seit der WM 2010 vermehrt Spieler mit Migrationshintergrund, und die meisten von ihnen bewegen die Lippen nicht, wenn es losgeht mit „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Bundestrainer Joachim Löw sagt, er finde es toll, wenn die Hymne gesungen wird. „Aber fatal ist der unterschwellige Vorwurf, dass die Spieler, die es nicht tun, keine guten Deutschen seien.“

Kaltes Herz wie bei der Vereinswahl?

Löw baute diesen Satz in seine bisher wütendste Rede ein. Das war einige Wochen nach der Europameisterschaft 2012. Die Deutschen waren im Halbfinale an Italien gescheitert, das schmerzte die Volksseele, es wurde abgerechnet. Hatten sich Mesut Özil, Sami Khedira, Jerome Boateng, Lukas Podolski etwa nicht genug angestrengt? Löws Verteidigungsrede dauerte 28 Minuten. Vor allem rühmte er die Verdienste eben jener Spieler. Sportlich, gesellschaftlich.

Am Dienstag, als er seinen WM-2018-Kader bekannt gab, war er auch einer der Verständnisvollsten. Er bat um Nachsicht für jene seiner Spieler, deren Eltern aus einem anderen Land, einem anderen Kulturkreis stammen. „Es ist oft so, dass zwei Herzen in ihrer Brust schlagen – und sie das unter einen Hut bringen müssen.“ In dieser Lage sah er aktuell Gündogan und Özil – sie sind eben auch Figuren, auf die man in der Türkei achtet, an deren Werdegang man dort mit Sympathie teilnimmt.

In den deutschen Diskussionen dieser Woche vernimmt man jetzt öfter den Vorwurf, dass Özil und Gündogan sich mit kaltem Herzen und mit Kalkül für die DFB-Auswahl entschieden hätten – so, als würden sie sich einen Verein wählen.

Von der Hand zu weisen ist das nicht ganz – denn diese Möglichkeit offeriert der moderne Sport. Es gibt so etwas wie einen Markt für Staatsbürgerschaften, vor gut zwanzig Jahren begann er, den deutschen Fußball zu erreichen.

Damals umwarb Bundestrainer Berti Vogts einen Jugendspieler vom FC Bayern: Berkant Göktan, 16. Vogts fragte den jungen Münchner Türken, hierzulande geboren, ob er sich vorstellen könne, einmal für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen. Das war in den 90er-Jahren noch nahe am Tabubruch. Vogts indes forcierte, weil er schwere Zeiten auf den deutschen Fußball zukommen sah, Einbürgerungen: die des Brasilianers Paulo Rink, des Südafrikaners Sean Dundee. Und zunehmend boten sich diese Optionen an: Die Kinder von Zugewanderten, von Flüchtlingen.

Frankreich wurde zum Vorbild. Mit seiner Weltmeister-Mannschaft von 1998. Die Stars hatten andere als rein französische Ursprünge. Zinedine Zidane war auch Algerier, Youri Djorkaeffs Familie stammte aus Armenien, Christian Karembeu wurde auf einer Insel im Südpazifik geboren. Die Equipe tricolore bildete die französische Gesellschaftsstruktur ab.

Die deutsche Nationalmannschaft wurde ähnlich bunt. Integration stand für eine neue Spielkunst, die sich abseits der klassischen deutschen Tugenden etablierte. Der DFB feierte sich dafür. „Werte“ wurde zu einem zentralen Begriff in der Selbstdarstellung.

In dieser Zeit flogen ihm die Talente nur so zu. Weil er mit seiner Konstanz, die er bei EM, WM zeigt, den Spielern die besseren Perspektiven bieten konnte – ein Vorteil, wie ihn auch der FC Bayern als permanenter Champions-League-Teilnehmer im Vergleich mit anderen Clubs hat. Die DFB-Elf versprach immer den größeren Ruhm. Allerdings musste man sich für einen Platz in ihr auf einen stärkeren Konkurrenzkampf einlassen.

Die einen begeistert, die anderen verstört

Gelockerte internationale Regularien erleichterten auch den Wechsel, falls es nicht klappte mit einem Stammplatz in der deutschen A-Nationalmannschaft. Vor dem ersten Einsatz in einem Senioren-Pflichtspiel (EM-, WM-Qualifikation) konnte man sein Bekenntnis korrigieren.

Kevin Prince Boateng handelte sich in der deutschen U 21 Ärger mit dem Trainer ein – und spielte anschließend für Ghana, bei der WM 2010 auch gegen seinen Halbbruder Jerome. Sebastian Boenisch war Kapitän der deutschen U 21; als er merkte, dass seine Fähigkeiten nicht für mehr ausreichen würden, trat er für den polnischen Verband an. Ashkan Dejegah spielte in jungen Jahren für die deutschen U-Teams, heute ist er Kapitän der iranischen Nationalmannschaft. Martin Harnik, gebürtiger Hamburger, entschied sich aufgrund des Vaters aus der Steiermark, seine Chance in der österreichischen Nationalmannschaft zu suchen. In der ihn die neuen Mitstreiter mit seiner Wissenslücke aufzogen: Harnik hatte von Hermann Maier, dem wahrhaft weltberühmten Sportsuperstar des Landes, noch nie gehört. Ein kultureller Konflikt.

Wie ihn – in größerem Ausmaß – etwa Mesut Özil lebt. Auf der einen Seite ist er der typische Fußballstar mit schnellen Autos und einem Celebrity-Leben, zu dem Dates mit Frauen aus dem Showbiz und Berichte in der „Bunte“ gehören. Auf der anderen Seite ist Özil der gläubige Muslim, der auf seinem Twitter-Account (23 Millionen Follower) Bilder von seiner Pilgerfahrt nach Mekka 2016 zeigt – wofür er in der Türkei Beifall erhielt. Doch in Deutschland will er über diese Reise nicht sprechen. Womit er die eine Seite seiner Klientel begeistert, verstört er die andere.

Sami Khedira kennt diese Rücksichtnahmen ebenfalls. Seines schwäbischen Idioms wegen vergisst man, dass er väterlicherseits auch Tunesier ist. Mit seiner zwischenzeitlichen Lebensgefährtin Lena Gercke posierte er auf dem Cover der „GQ“ – die Hand auf ihren nackten Brüsten – der Redakteur einer Zeitung in Tunis, die das Foto übernahm, wurde wegen „Verstoßes gegen Sitte und Moral“ bestraft. Seitdem agiert Khedira defensiver.

Sami Khediras jüngerer Bruder Rani spielt beim FC Augsburg. Kürzlich bot der tunesische Verband an, ihn zur WM nach Russland mitzunehmen. Rani überlegte: „Ich spreche die Sprache kaum. Ich würde einem Spieler, der die Qualifikation erreicht hat, seinen Platz wegnehmen.“

Rani Khedira hätte sich nicht integriert gefühlt. Er verzichtete.

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