Nummer eins oder nichts

von Redaktion

In einer recht gesunden WM-Truppe bleibt Manuel Neuer der Unwägbarkeits-Fall – Bessere Situation als 2014

Von Günter Klein

Eppan – Sami Khedira zeigte den Kollegen, wie gut er körperlich drauf ist, wie biegsam und akrobatisch auch als Über-Dreißigjähriger. Er imitierte auf dem Trainingsplatz einen Kickboxtritt, ließ den Fuß über den Köpfen der anderen kreisen. „Ich fühle mich total fit“, sagt er. Dabei hat er vor einer Woche noch ein Ligaspiel gehabt in Italien; die Bundesliga war da bereits in der Sommerpause.

Khedira war vor vier Jahren ein Pflegefall in der WM-Vorbereitung. Oder, weil es freundlicher klingt: ein Sonderfall. Im November 2013 war ihm das Kreuzband gerissen, er stürzte sich in das aussichtslos anmutende Unterfangen, zur WM im Juni/Juli gesund und spielbereit zu werden. Er schaffte es tatsächlich und bestritt im Mai sogar das Champions-League-Finale. Als er zur WM-Vorbereitung der Nationalmannschaft einrückte, war er platt. Und immer wieder musste Bundestrainer Joachim Löw die Trainings- und anschließenden Spieleinsätze des Mittelfeldstrategen dosieren.

Es war damals, vor vier Jahren im Passeiertal, von Eppan ums Eck gelegen, ein ganz anderes Trainingslager. Mit etlichen Fällen von der Khedira-Art. Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm, Manuel Neuer, Mats Hummels, Marcel Schmelzer – sie alle hatten was mitgebracht aus der Saison. Die eigentlichen Co-Trainer von Löw waren die Ärzte. Sie entschieden, wer wie belastet werden darf.

2018 ist die Lage nicht nur bei Khedira entspannter. Im 27er-Kader ist lediglich ein Akteur noch nicht mannschaftstrainingstauglich: Jerome Boateng.

„Kompliment an ihn und die medizinische Abteilung“, sagt Co-Trainer Marcus Sorg. Die Heilung nach der Oberschenkelverletzung in Bayern-Diensten läuft gut, „Ziel ist es, ihn zur WM spielfähig zu bekommen“. Auf Boateng wartet man wie 2014 auf Schweinsteiger und Lahm. Platz im Kader gesichert.

Die letzten warnenden Meldungen haben sich in Wohlgefallen aufgelöst. Mesut Özil fehlte in den letzten zwei Wochen beim FC Arsenal, doch bekam in Eppan von Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt einen erholten Rücken attestiert. Im Laufe der Saison waren etliche Nationalspieler verletzt – „Sogar ich habe mal fünf Wochen gefehlt“, erinnert der als unverwundbar geltende Thomas Müller –, doch in der Endphase gab es unter den 27 Nominierten keinen akuten Fall.

Auch Leon Goretzka ist wieder in die Spur gekommen, gesundheitlich. Er hatte einen starken ersten Teil der Hinrunde gehabt mit Schalke, wurde gefeiert als der kompletteste Mittelfeldspieler der Bundesliga, der FC Bayern unterbreitete ein Angebot, das Goretzka annahm. Dann plötzlich verschwand er aus der Schalter Start-Elf und sogar aus dem Kader. Für Wochen. Die Begründung lautete: Knöcherne Stressreaktion im Unterschenkel.

„Eine sensible Geschichte, weil eine Entzündung reinkam, und es war eben zu Beginn nicht absehbar, wie lange es dauern würde, bis das ausheilt“, erklärt Goretzka, „doch ich empfand die Verletzung nicht als bedrohlich. Sie hat keine langfristigen Folgen. Also: Kein Problem.“

Das ist auch die offizielle Verlautbarung im Fall Manuel Neuer. Joachim Löw hat mit dem Torhüter, der seit September keinen Wettkampf bestritten hat, festgelegt: „Wenn er nach Russland zur WM mitfährt, dann wird er auch spielen.“ Was im Umkehrschluss bedeutet: Stellt sich diese Woche bei zwei internen Tests gegen die U20 und am Samstag in Klagenfurt gegen Österreich heraus, dass Manuel Neuer nicht der Manuel Neuer sein kann, wie man ihn vor seinen drei Mittelfußbrüchen in Serie kannte, wird er auch nicht als Ersatzmann und moralische Stütze mit zur WM reisen. Nummer eins wäre Marc-Andre ter Stegen. Löw: „Er hat sich phantastisch entwickelt. Er hätte mein Vertrauen.“ Doch Marc wisse, dass Manuel halt einen Bonus habe.

„Neuer ist hochbelastbar“, sagt Löw. Das Körperliche ist das eine, und leichte Restzweifel hatte der DFB, weil er in Bozen eine weitere Kernspintomografie vom Torhüterfuß der Nation in Auftrag gab. Das größere Thema ist: Findet er nach der langen Pause in alle Selbstverständlichkeiten seines Spiels hinein: es eröffnen, Gegner ablaufen (wie 2014 gegen Algerien), Entscheidungen treffen, über die man nicht nachdenkt, sondern die Instinkthandlungen sind?

Am Freitag hat Neuer vor einigen hundert Kindern und DFB-Gästen mit der Mannschaft Spielformen trainiert. Bei diesen Kleinfeldkicks fliegen den Keepern die Bälle um die Ohren. Hinter Neuer schlug es oft ein, einige Pässe misslangen. Eine Woche hat er noch Zeit.

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