Nie und nimmer hätten wir gedacht, Sandro Wagner mal Recht geben müssen. Nicht uneingeschränkt natürlich, wir nämlich bezweifeln im Gegensatz zu ihm, dass er Deutschlands bester Stürmer ist und allein wegen seiner unverblümten Art in Jogis WM-Kader fehlt. Wir finden auch nicht, dass Fußballprofis noch mehr verdienen müssten, für uns sind diese Wahnsinnsgehälter noch immer absurd. Unsere Zustimmung aber hat Wagner bei einem einzigen Spieler, der ist wirklich unterbezahlt, obwohl er, so man den investigativen Fähigkeiten der Seite „Starsport“ glaubt, 71 000 Euro kassiert, pro Woche übrigens. Das aber, was Loris Karius durchmacht in diesen Tagen, ist mit Geld sowieso nicht aufzuwiegen, nicht einmal mit Milliarden.
Das Pech des Loris Karius ist halt, dass er nicht Goalgetter, nicht Mittelfeld-Stratege, auch nicht Abwehrrecke werden musste, sondern Torhüter. Da ist eben ein Fehler nicht nur ein Fehler, sondern schnell eine Katastrophe, wenn er etwa in einem Champions League-Finale passiert, noch dazu doppelt. Die Szene, als er Benzema ohne Not den Ball an die Fußspitze wirft, von wo er neben dem Pfosten ins Tor trudelt, wird in keinem Jahresrückblick fehlen, ebenso der Moment, als ihm dieser eigentlich harmlose Fernschuss durch die Hände gleitet. Immer und immer wieder wird er damit konfrontiert werden, darüber lachen wird er nicht einmal können, wenn er mal seinen Enkeln davon erzählt (falls er es je tut). Auf dem Platz sind es nur Nuancen, die einen Sieger zum Sieger, einen Verlierer zum Verlierer machen, auf dem Konto sind es viele Millionen, in der öffentlichen Wahrnehmung Welten.
Und dann steht am Ende eines Spiels (welch Verniedlichung!) ein Mann auf dem Rasen, der weiß, dass nur er, dass seine Patzer heute diesen Unterschied ausgemacht haben, dass er es ist, der nun seinen Verein, seine Mannschaft, die Fans ins Tal der Tränen gestürzt hat. Karius stand da lange allein, kein Teamkollege, kein Betreuer, kümmerte sich zunächst um ihn, die ersten, die zu ihm kamen, waren Spieler des Gegners. Später, sehr viel später erst hat ihn der Trainer kurz umarmt. Klopp hat gesagt, das, was dem Loris passiert ist, wünsche man seinem ärgsten Feind nicht. Das Netz, das oft so unerbittlich, so gemein, so verletzend ist, hat viel mehr Empathie gezeigt als Häme. Aber hilft dem armen Kerl nun Mitleid?
Fehler machen wir alle, hat Jerome Boateng an die Adresse von Karius gerichtet, das ist nett, keiner im Fußball aber wiegt so schwer wie der eines Keepers in einem großen Finale. Sie wissen es alle, selbst Olli Kahn, das Mentalitätsmonster, hat schon mal gepatzt in einem WM-Endspiel gegen Brasilien, nicht ganz so krass natürlich. Mit dem Risiko müssen sie leben, warum sie sich das antun, können wir wohl genauso wenig nachempfinden wie die Motivation von Schiedsrichtern, vor allem in unteren Ligen. Wir sind halt „Normalos“, wer aber wirklich ein guter Torhüter werden will, muss nicht unbedingt einen in der Waffel haben, sollte aber schon ein wenig verrückt sein, nicht nur der Maier Sepp weiß das. Er weiß auch, was das Härteste ist nach einem groben Schnitzer: Sich wieder neu zu motivieren.
Ob der arme Loris Karius eine Zukunft hat beim FC Liverpool, wird sich zeigen. „You’ll never walk alone“, haben ihm die Fans noch im Stadion mit auf seinen nun knüppelharten Weg gegeben, Karius hat viel Rückhalt erfahren (die Ergüsse eines Lothar Matthäus wollen wir hier mal vernachlässigen). Vielleicht sollte man Karius dieses fast schon überzogene Selbstbewusstsein eines Sandro Wagner wünschen, oder dass er einfach verrückt genug ist, um Kiew aus dem Kopf zu kriegen. Eine brutale Aufgabe, die trotz des Irrsinnsgehalts eines Fußballprofis wohl noch immer unterbezahlt ist. In dem Fall geben wir Wagner mal Recht. Ausnahmsweise.
Zwischentöne
Das Schicksal eines Torhüters
Was Loris Karius durchlebt, ist mit Geld nicht aufzuwiegen. Man kann ihm nur wünschen, überzogen selbstbewusst zu sein – wie Sandro Wagner.