Eppan – Am Abend des10. Oktober 2009 trafen Russland und Deutschland letztmals aufeinander. Es war das entscheidende Qualifikationsspiel zur WM 2010.
Am Vormittag dieses 10. Oktober herrschte ein Riesenauftrieb im berühmten Moskauer Kaufhaus GUM am Roten Platz, gegenüber des Kreml. Der Russische Fußballverband präsentierte seine Bewerbung für die Ausrichtung der WM 2018 (ersatzweise 2022 – es stand ja die Doppelvergabe an im Herbst 2010). Man dachte: Sie werden wohl zum Zug kommen bei einer der beiden Gelegenheiten, solch ein Riesenland muss ja mal berücksichtigt werden. Der andere Gedanke war: Aber Weltmeister-Potenzial hat Russland nicht. Auch nicht mit Heimvorteil. Heute, kurz vor der WM 2018, die es zugesprochen bekam, ist es von dieser sportlichen Einschätzung noch viel weiter entfernt.
Dabei war Russland eine Fußballnation, auf die man mit Achtung blickte. Die UdSSR hatte einige Größen in die internationale Fußballgeschichte eingebracht, Helden und Legenden wie Wsewolod Bobrow (50er-Jahre), Lew Jaschin (60er), den Ukrainer Oleg Blochin (70er) oder Igor Belanow, der Künstler in einem Team, das das Europameisterschafts-Finale 1988 in München erreichte (und 0:3 gegen die Niederlande verlor). Als der Eiserne Vorhang sich hob, durften russische Stars in den Weste, und an vielen wie dem rothaarigen Sergej Kirjakow (in Karlsruge) und dem kunstvollen Igor Dobrowolski (verzauberte Italie) hatte man seine Freude.
Auch 2009 begegneten die Deutschen den Russen mit Respekt. Es war eine Zeit, in der man noch die Starspieler jeder Mannschaft gegeneinander aufwog. Die DFB-Elf hatte Michael Ballack – aber die Sbornaja hatte Andrej Arschawin, diesen mitreißenden kleinen Dribbler, der schnell rote Wangen bekam und den Arsene Wenger sich zum FC Arsenal geholt hatte. Jerome Boateng machte im Luschniki-Stadion sein erstes Länderspiel gegen Arschawin, den sie den Fußball-Zaren nannten – es endete mit einer Gelb-Roten Karte für den Debütanten Boateng, aber einem 1:0-Sieg für Deutschland. Bester Mann: Torwart René Adler. Tiefes Durchatmen.
Die Russen investierten viel Geld in ihre Nationalmannschaft – sie hatten Guus Hiddink als Trainer. Der Niederländer galt als Wundermann, einer, der Nationen an die Weltspitze bringt. Seine Magie rührte her von der WM 2002, als er mit Südkorea das Halbfinale erreichte. Und setzte sich bei der EM 2008 fort: Mit Russland entzauberte er die top besetzten Niederländer, die in der Vorrunde alles an die Wand gestürmt hatten. Halbfinale.
Danach riss Russlands Fußballerfolg ab, und Hiddink gab auf, nachdem er in den Playoffs die WM 2010 verfehlt hatte. Das Geld wurde in seinen Landsmann Dick Advocaat und danach in Fabio Capello investiert, den Italiener, der die besten Tage längst hinter sich hatte. Auch er scheiterte: Vorrundenaus bei der WM 2014 – in einer machbaren Gruppe mit Belgien, Algerien, Südkorea. Auch bei EM 2012 und 2016 mussten die Russen nach den drei Gruppenspielen abziehen.
Sie haben jetzt ein Team der Namenlosen. Und keine Hoffnung. Die jüngste repräsentative Umfrage, wer im Volk denn glaube, dass die Sbornaja, die Nationalmannschaft, Weltmeister werde, ergab: Es sind lediglich vier Prozent.
Wenigstens haben sie jetzt einen Trainer, an dem sie sich nicht abarbeiten müssen wie an Capello, dem sie irgendwann unterstellten, ihm gehe es nur um die Kohle. Seit zwei Jahren liegt die Verantwortung bei Stanislaw Tschertschessow. Er war früher der Nationaltorwart. Man muss ihn einfach mögen. Ein unkomplizierter Mann mit verschmitztem Humor. Er sagt, seine Aufgabe sei doppelt so schwer wie die des deutschen Kollegen. „Der hat 80 Millionen Bundestrainer in seinem Land, ich in meinem 150 Millionen. Das bedeutet: Zweimal so viele Fragen, denen ich mich stellen muss.“
Tschertschessow nennt Joachim Löw „Jogi“, und Jogi nennt Stanislav Salamowitsch Tschertschessow „Stani“. Stani spricht gut Deutsch, er versteht den Dialekt von Löw. Sie sind alte Bekannte. 2001 wurde Löw Trainer beim FC Tirol Innsbruck, Tschertschessow war Torwart. Verletzt in Folge eines Kreuzbandrisses und schon 39 Jahre alt. Aber er machte bei einem Kennenlernkaffee auf der Geschäftsstelle dem „jungen bissigen Trainer aus Deutschland“ klar, dass er noch einmal angreifen und mit Russland zur WM 2002 fahren wolle. Löw sagt: „Ich dachte mir: Aha, starkes Selbstbewusstsein.“ Tschertschessow schaffte sein angestrebtes Comeback, holte sich den Platz im Tor, Jogi und Stani wurden zum Erfolgsduo in Innsbruck, obwohl der Verein Zahlungsschwierigkeiten hatte. Tschertschessow sagt über die Zeit in Österreich: „Wir beide waren jung und schön, jetzt sind wir nur noch schön.“
Tschertschessow, 54, ist fast eine Art Konkursverwalter des russischen Fußballs. Die Fehler, die zur Misere geführt haben, hat nicht er zu verantworten. Die Liga ist schwach, sie hat ihre Identität verloren. Clubs wie Anschi Machatschkala (aus der Provinz Dagestan) steckten Oligarchengeld in die Verpflichtung von Altstars wie Samuel Eto’o oder Roberto Carlos (und Guus Hiddink als Trainer) und mussten, als der große Erfolg ausblieb, die Investitionen zurückfahren. Die Liga wurde von Brasilianern überschwemmt, allein Zenit St. Petersburg konnte international in der europäischen Mittelklasse mithalten, doch eben nicht in die Klasse der englischen und spanischen Clubs oder des FC Bayern vordringen. Russische Spieler hatten keine Chance, sich zu entwickeln in ihren Vereinen – und für einen Wechsel ins Ausland fehlte ihnen der Glamour.
Der Sportjournalist Anton Mischaschenok ist der Misere weiter auf den Grund gegangen. Er untersuchte die Struktur des Angebots für den Nachwuchs und stellte fest, dass es schlicht an Fußballplätzen fehlt. Beispiel Gorki (seine Stadt): 500.000 Einwohner, aber nur zwei Kunstrasenplätze. Zwei weitere Felder, die existieren – kaputt, nicht nutzbar. Mischaschenok fordert: „Um eine Fußballnation zu werden, müssen wir erst einmal lernen, wie man Plätze baut und pflegt.“
Dass Russland solche Missstände erleben würde, war nicht abzusehen, als das Land mit Tamtam in seine WM-Bewerbung einstieg. Das große Turnier kommt zur falschen Zeit, um sich der Welt so zu zeigen, wie der Staat es will. Joachim Löw rät seinem Freund Stanislaw Tschertschessow dennoch: „Eine WM zuhause – genieße es einfach, Stani.“