UNSERE SERIE: FRAGEN ZUR WM IN RUSSLAND (IV)

Geschlossene Gesellschaft?

von Redaktion

von uli kellner

München – Die Fußball-WM ist ein Turnier mit den besten Nationalmannschaften der Welt – und am Ende gewinnt immer Deutschland. Oder Brasilien. Oder Italien. Gut, der letztgenannte Fall kann bei der Auflage 2018 ausgeschlossen werden, ausnahmsweise. Ansonsten aber scheint das abgewandelte Zitat des englischen Ex-Nationalspielers Gary Lineker tatsächlich Gesetz zu sein. Ist nur eine erlauchte Elite in der Lage, das meist beachtete Sportspektakel der Welt zu gewinnen? Und daran anknüpfend: Sind die wechselnden Geheimfavoriten dazu verdammt, sich hinten anzustellen? Warum sind bei EM-Turnieren umjubelte Außenseiter-Märchen möglich, aber nie bei einer WM, die ja wie gemacht dafür wäre?

Experten behaupten gerne, dass es schwerer ist, eine EM zu gewinnen als eine WM. Beliebte Argumentation: Dort sind nur starke Europäer am Start – und keine Exoten, die das Niveau angeblich verwässern (zumindest galt das, bis das Teilnehmerfeld 2016 auf 24 Länder aufgestockt wurde). Trotzdem durften 1992 die aus dem Urlaub zurückgeholten Dänen jubeln, 2004 Otto Rehhagels Griechen – und 2016 Portugal, der Prototyp des Geheimfavoriten. Zum Vergleich ein Blick auf die Ahnengalerie der Weltmeister: Angeführt wird sie von Brasilien (fünf Titel), gleichauf folgen Deutschland und Italien (je vier), Argentinien und Uruguay stehen bei zwei Sternen – je einmal ganz oben thronten England, Frankreich, Spanien. Aber sonst? Kein Portugal weit und breit. Kein Belgien. Nicht mal die Holländer, die es immerhin dreimal bis ins Finale schafften (1974, 1978, 2010). Und schon gar kein Vertreter aus dem zwischenzeitlich hochgehandelten Afrika.

Obwohl seit nunmehr 88 Jahren WM-Turniere veranstaltet werden und es auch im Fußball selten Konstanten gibt, wirkt es, als habe sich auf dem Gipfel der Fußballwelt eine geschlossene Gesellschaft etabliert, in die kein Neuling, kein Außenseiter und erst recht keine kleine Nation eindringen kann. Dabei gehört es ebenso zur Tradition bei den Weltmessen des Volkssports, dass im Vorfeld nicht nur in Expertenkreisen sogenannte Geheimfavoriten gekürt werden.

Früher waren das die Russen, die zu Sowjet-Zeiten mit technischem Highspeed-Fußball höchste Erwartungen weckten. In den 90er-Jahren kamen die Afrikaner hinzu, erst Kamerun mit Sturmoldie Roger Milla, später auch Nigeria, Ghana oder die Elfenbeinküste mit Didier Drogba, dem Bayern-Albtraum im „Finale dahoam“. Ein Klassiker ist auch, den Engländern einiges zuzutrauen – und dann mitleidig oder belustigt zuzuschauen, wenn mal wieder im Elfmeterschießen Schluss ist. Portugal mit seiner Goldenen Generation um Luis Figo wurde um die Jahrtausendwende hoch gehandelt – auch jetzt wieder, mit den Euro-Helden um den ewig jungen Ronaldo. Die Niederlande brachte es in diesem Segment am weitesten – ganz zum Titel jedoch reichte es nie.

Selbst mit dem weltweit bewunderten Dreigestirn Gullit, Rijkaard, van Basten scheiterte Holland an Deutschland und den eigenen Erwartungen (Achtelfinale 1990). Ganz bitter auch für Oranje: Zum zweiten Mal nach 2002 ist die Elftal diesen Sommer nicht dabei – und muss zusätzlich ertragen, dass der belgische Rivale einen beachtlichen Hype erfährt. Schon 2014 hatten Experten dem Starensemble um Kevin de Bruyne eine Überraschung zugetraut (ehe im Viertelfinale gegen Argentinien Schluss war). Und heuer? „Belgien gehört zum absoluten Favoritenkreis“, adelt selbst der schwarzrotgoldene Bundestrainer Joachim Löw den schwarzgelbroten Nachbarn.

Läuft für Belgien und in den anderen Gruppen alles nach Plan, träfen die „Roten Teufel“ im Viertelfinale auf Frankreich – und im Halbfinale auf Spanien. Zwei Nationen übrigens, die in der WM-Historie zu den Spätberufenen zählen. Frankreich hatte schon immer große Spieler, war aber erst 1998 reif für den ganz großen Wurf (u.a. dank Zinedine Zidane). Und was sollen erst die Spanier sagen? Das Land der Edelklubs Real Madrid und FC Barcelona lieferte bei Großturnieren eine Enttäuschung nach der anderen ab – bis zur Erlösung im WM-Finale 2010 (das von zwei Euro-Titelgewinnen flankiert wurde).

Geheimfavorit Spanien? Klingt aus heutiger Sicht komisch, ist aber erst acht Jahre her. Und könnte als Mutmacher taugen für alle Geheimfavoriten, die sich in diesem Monat noch an den Stammtischen und in den WM-Stadien herauskristallisieren.

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