Der Deutschland-Traumatisierer

von Redaktion

Juan Carlos Osorio hat Mexikos Fußball gegen viele Widerstände revolutioniert – nun steht er im Achtelfinale gegen Brasilien

München – Keine Nation war so oft bei einer WM dabei, ohne den Titel zu holen, wie Mexiko: Das Achtelfinale ist seit 1994 traditionell Endstation. Sechs Mal in Serie hieß es Adios, wenn sich die Verbliebenen auf die Runde der letzten Acht vorbereiteten. Vermutlich wird es auch diesmal nicht anders laufen: Gegner heute ist Brasilien.

Aber die Mexikaner haben in diesem Jahr eh schon viel mehr erreicht als ihnen zugetraut wurde. Sie sind die offiziellen Deutschland-Traumatisierer, denn von ihrem 1:0 über den Weltmeister gleich zum Turnierstart hat sich der Titelverteidiger nachweislich nie so richtig erholt. Für Trainer Juan Carlos Osorio ist der Verlauf der WM eine Genugtuung allererster Güte. Der Kolumbianer wurde in Mexiko sehr kritisch beurteilt. Der frühere Torjäger Hugo Sanchez ist bei den Lateinamerikanern sowas wie Diego Maradona für Argentinien oder Lothar Matthäus für Deutschland. Er gilt als Chefkritiker des Coaches und sagte: „Seine Ideen mögen modern und innovativ sein, aber das soll er dann mit der Nationalelf Kolumbiens machen, nicht mit der mexikanischen.“ Seit der Verpflichtung des Südamerikaners im Oktober 2015 polemisiert er gegen Osorio. „Ein so symbolträchtiges Amt wie das des Nationaltrainers sollten wir Mexikaner nicht einfach so hergeben, denn wir haben fähige Trainer, die das machen können“, meinte der frühere Real-Madrid-Star.

Der 56-jährige Coach ließ sich aber nicht beirren. Bereits vor einem Jahr führte er Mexiko bis ins Finale des Confed Cup, wo es dann zwar eine 1:4-Niederlage gab, was aber spätestens mit dem Coup in Russland bloß noch eine Fußnote der Geschichte ist. Osorio trainierte bereits vor 20 Jahren mit den elastischen Bändern, die Jürgen Klinsmann 2004 bei der deutschen Nationalelf einführte. Der Kolumbianer erhielt damals den spöttischen Spitznamen „El Reccreacionista“, der Erholer oder Entspanner – selten hat man sich so gründlich bei einer Etikettenvergabe getäuscht. Osorio revolutionierte die Szene, in Mexiko nun auch gegen alle Widerstände.

Seine Vita liest sich entsprechend kurios: Zu Beginn seiner Karriere arbeitete er als illegaler Einwanderer in den USA als Trainer bei kleinen Clubs, hospitierte dann bei Manchester United und feierte vor fünf Jahren in seiner Heimat den Durchbruch mit Atletico Nacional aus Medellin, indem er drei Mal in Serie Meister wurde. Nach einem Gastspiel beim FC Sao Paulo holten ihn die Mexikaner.

Osorio doziert bei Pressekonferenzen gerne, schleppt dazu häufig einige Stapel Papier mit sich. Inspiriert wird er von der Philosophie von Pep Guardiola und Marcelo Bielsa. Er plädierte auch dafür, dass mehr Mexikaner im Ausland Erfahrungen sammeln sollen. So wie einst Hugo Sanchez, sein schärfster Kritiker. ANDREAS WERNER

Artikel 1 von 11