Wimbledon – Normalerweise macht Mischa Zverev nicht den Eindruck, als sei er leicht aus der Fassung zu bringen. Er ist ein Mann, der klare Gedanken blitzschnell in logisch aufgebauten Sätzen zusammenfassen kann, für den es fast kein Thema gibt, zu dem er nichts zu sagen hätte, das ganze gewürzt mit ziemlich trockenem Humor. Doch das bedeutet ja nicht, es gebe in seinem Leben für Emotionen und Tränen im Augenwinkel keinen Platz. Als er nach dem ersten Titel seiner Karriere im Einzel an diesem Wochenende auf dem Rasen von Eastbourne gefragt wurde, ob er sich bei jemandem für die moralische Unterstützung im Finale bedanken wolle, dann begann er den Satz mit den Worten: „Meine Frau hat mich hier unterstützt“, dann blieb er stecken und musste sich erstmal sammeln. Manchmal hatte er sich gefragt, wie es denn sein könne, dass selbst so erfolgreiche Kollegen wie Roger Federer bei Siegerehrungen emotional reagierten und gelegentlich Tränen zeigten, aber jetzt wusste er Bescheid. Solche Momenten haben ja nichts mit Logik zu tun.
Nach mehr als einem Jahrzehnt auf der Tour mit 30 den ersten Titel zu gewinnen ist ja keine Kleinigkeit. Zumal, wenn man mehr als nur einmal befürchtet hatte, diese Karriere sei schon vorbei. „Als ich in der Weltrangliste in den Elfhunderten stand, dachte ich, dass ich nicht aufhören will, ohne einen Titel zu gewinnen“, erzählte Zverev nach der Siegerehrung im englischen Seebad.
Das war vor drei Jahren, dem Tiefpunkt seiner von diversen Verletzungen unterbrochenen und gestörten Karriere. Probleme mit dem rechten Handgelenk, eine Operation am linken, angebrochene Rippen, ein Bandscheibenvorfall, ein Anriss der Patellasehne im linken Knie – Zverevs Krankenakte ist umfangreich, und gäbe es den kleinen Bruder nicht, dann hätte er sich vermutlich längst als Tennisprofi verabschiedet.
Nachdem er eine zeitlang versucht hatte, vor allem der beste Trainingspartner für den großen Kleinen zu sein, war es genau dessen Unterstützung, die ihm noch mal Mut gemacht hatte. Alexander Zverev, der fast zehn Jahre jünger ist als Mischa, war schon auf dem Weg nach oben, und er war überzeugt davon, dass es der Ältere noch mal schaffen würde. „Wir haben uns gegenseitig gepuscht“, sagt Mischa zu diesem Thema immer wieder, „ich hab Sascha so viel zu verdanken.“
Die spektakulärsten Momente der Karriere in mehreren Anläufen erlebte Mischa Zverev 2017 in Melbourne, als er bei den Australian Open nach einem Sieg gegen Andy Murray das Viertelfinale der Australian Open erreichte, ein halbes Jahr später stand er in der Weltrangliste auf Platz 25, seiner bisher besten Position. Nach einem mittelprächtigen Auftakt in diesem Jahr war er ein wenig zurückgefallen, doch nach dem Sieg im Finale von Eastbourne gegen den Slowaken Lukas Lacko geht es für ihn wieder nach oben.
Natürlich passt es perfekt, dass er den ersten Titel auf Rasen gewann; auf keinem anderen Untergrund hat Mischa Zverevs konsequentes Serve-und-Volleyspiel mehr Tradition. Damals beim Coup in Melbourne vor einem Jahr hatte ihn John McEnroe eben wegen der Verdienste um die Abteilung Serve und Volley zu seinem aktuellen Lieblingsspieler erklärt, und das ist ein Lob, über das sich Zverev immer noch freut.
Zwischen den beiden Familien gibt es jetzt aber noch eine gedankliche Verbindung; nach dem Sieg in Eastbourne sind Mischa und Alexander Zverev die ersten Brüder seit John und Patrick McEnroe mit Einzeltiteln auf der Tour. Für Patrick, den jüngeren der beiden, blieb es am Ende bei einem Titel, John sammelte auf unnachahmliche Weise 77; mal sehen, die weit die Zverevs in dieser Wertung kommen werden.
Als sich Mischa am Sonntag noch von den Anstrengungen der Woche an der Küste erholte, legte Alexander eine engagierte Stunde auf den Trainingsplätzen des All England Clubs im Aorangi Park hin, wie immer begleitet und beobachtet von seinem Vater, Alexander senior. Tags zuvor, während Mischa gerade auf dem Weg zum Titelgewinn war, hatte er berichtet, mit seinem bei den French Open in Paris lädierten Oberschenkel sei wieder alles in Ordnung, und er gehe in Wimbledon guter Dinge in sein erstes Spiel morgen gegen den Australier James Duckworth. Man kann davon ausgehen, dass ihm der Sieg des großen Bruders fast mehr bedeutete, als hätte er diesen Titel selbst gewonnen.