München/Rostow – Seine Mutter lächelte ihn an, aber Romelu Lukaku wusste, dass etwas nicht stimmte. Er war damals sechs Jahre alt, seine Mutter servierte ihm Brot und Milch, wie jeden Tag, wenn er aus der Schule kam. An diesem Mittag aber beobachtete er, wie sie noch etwas anderes in die Milch schüttete. Es dauerte kurz, dann aber verstand er, was sie getan hatte. „Ich wusste, dass es uns nicht gut ging“, sagte er. „Als sie aber das Wasser in die Milch gemixt hat, wusste ich: Es ist vorbei.“
Heute, fast 19 Jahre später, spielt Lukaku, 25, mit Belgien im Achtelfinale der Fußball-WM. Das Duell gegen Japan (20 Uhr) sieht er als Zwischenstation, mehr nicht. Lukaku hat in zwei Vorrundenspielen vier Tore geschossen, was nicht wirklich erstaunlich ist, weil er in seiner ersten Saison für Manchester United schon 27 Tore gesammelt hat. Der Stürmer gehört zu einer besonders talentierten Generation von belgischen Fußballern, die in Europas Top-Ligen viel Geld verdienen und in Russland nun Weltmeister werden möchten.
Der Fußball war seine Flucht vor der Realität
Seine Milch mischt Lukaku heute nicht mehr mit Wasser. Die Geschichte erklärt aber, warum sein Antrieb so groß ist. Er hat sie vor der WM für „The Players’ Tribune“ aufgeschrieben, eine Online-Plattform, auf der Spitzensportler sehr persönliche Texte veröffentlichen. Lukaku hat viele Details aus seiner Kindheit in Antwerpen erwähnt. Wie die Ratten durch seine Wohnung flitzten, wie er nicht mitreden konnte, als die anderen Kinder in der Schule über Zidanes Siegtor im 2002-Finale der Champions League staunten, weil sich seine Eltern das Kabelfernsehen nicht mehr leisten konnten. Er fürchtete sich, ein Außenseiter zu sein. „Ich musste so tun, als wüsste ich, worüber sie reden.“
Lukaku flüchtete sich in den Fußball. Mit 12 Jahren erzielte er in 34 Spielen 76 Tore. Er hatte sich vorgenommen, seine Familie aus der Armut zu retten, setzte sich dann aber noch ein Ziel: „Ich wollte der beste belgische Fußballer der Geschichte werden.“
Große Worte, klar. Lukaku besitzt allerdings Fähigkeiten, die selten sind. Das Außergewöhnliche ist, dass er 1,91 Meter groß und 94 Kilogramm schwer ist, sich aber eben nicht so bewegt. Er rennt leichtfüßig, wendet sich schnell, im Torabschluss ist er trickreich. Nur der Engländer Harry Kane hat in Russland mehr Tore geschossen.
Seinen wertvollsten Beitrag zum WM-Turnier hat Lukaku wohl aber neben dem Platz geleistet. Er hat in seinem Artikel auf den permanenten Rassismus rund um die Fußballnationalteams hingewiesen, bevor die deutschen Populisten den DFB-Kicker Mesut Özil mit ekliger Wortwahl für das Scheitern verantwortlich machten und auch bevor Schwedens Fußballer sich veranlasst sahen, mit einem „Fuck Rassismus“-Video auf die Beleidigungen gegen ihren türkischstämmigen Mitspieler Jimmy Durmaz zu reagieren.
Lukaku, dessen Eltern aus dem Kongo kommen und der Belgien jetzt mit dem WM-Pokal beschenken möchte, hat den Rassismus so beschrieben: Lief es gut, nannten die Zeitungen ihn „den belgischen Stürmer“. Lief es aber nicht gut, nannten sie ihn: „Romelu Lukaku, den belgischen Stürmer kongolesischer Herkunft.“