Volle Bars, leere Strände

von Redaktion

Spätestens seit dem Elferkrimi gegen Spanien ist das WM-Gastgeberland im Fußballfieber

von elisabeth schlammerl

Sotschi – Der Mann krallt sich vor Aufregung an der riesigen Russland-Fahne fest, er starrt auf den Fernseher hinter der Bar. Iago Aspas macht sich bereit, der letzte spanische Elfmeterschütze. Wenn er nicht trifft, ist Russland im Viertelfinale. Es hat bereits Koke verschossen, davor aber auch Fedor Smolow für Russland. Die Bedienungen haben den Service eingestellt, Menschen auf der Promenade drängen in die Bar, sie haben mitbekommen, dass etwas Großes passieren könnte.

Teufelskerl Akinfejew

Aspas läuft an, schießt in die Mitte und Igor Akinfejew zieht im Fallen das Bein hoch. Er kann den Schuss abwehren, Russland gewinnt das Achtelfinale nach Elfmeterschießen 5:4, Spanien, der Weltmeister von 2010, ist raus, ausgeschieden gegen die Gastgeber, denen vor dieser WM niemand allzu viel zugetraut hat. Nicht einmal die Russen selbst. Aber jetzt brechen alle Dämme. Der Mann mit der Fahne brüllt seine Freude heraus, die Menschen liegen sich in den Armen und natürlich versucht fast jeder, diesen besonderen Moment auf dem Handy festzuhalten.

Die russische Schwarzmeerküste ist ein Urlaubsparadies, ein russisches zumindest. Um diese Jahreszeit liegen die Touristen dicht gedrängt an den Stränden von Sotschi, ein bisschen wie an der italienischen Adria. Die Fußball-WM spielte dort bis Sonntag keine so große Rolle. Die meisten Bars und Kneipen hatten zwar einen Fernseher aufgestellt, aber damit lockten sie kaum mehr Gäste an als gewöhnlich. Bisher schienen die Fußballfans an der Promenade rund um den Olympiapark die Ruhe der russischen Urlauber eher zu stören.

Peruaner schwangen stolz ihre Fahnen und sangen, obwohl ihre Mannschaft bereits vor dem letzten Gruppenspiel in Sotschi ausgeschieden war. Die Anhänger von Uruguay kaperten eine Pizzabude. Sergej, der Besitzer, hatte sich anders als die meisten dort, auf den Ansturm ausländischer Gäste vorbereitet. Er sprach Englisch, hat ein paar Wörter Spanisch, Französisch und Deutsch gelernt. An Spieltagen erhöht er die Preise für seine Pizza um 200 Rubel (ungefähr 2,70 Euro). Er ließ sich mit den Uruguayern fotografieren und sagt: „Das ist gut fürs Geschäft.“

Das Achtelfinalspiel in Moskau war auch gut für Sergejs Geschäft. Oder besser das Ergebnis. Am Abend kommen viele Russen in seine kleine Pizzabude. Sie trinken Bier und viele nicht nur eines. Die WM ist nun auch bei den Touristen am Schwarzen Meer angekommen. Männer liefen am Sonntag mit russischen Fahnen durch die Straßen, Frauen hatten sich die Nationalfarben ins Gesicht gemalt, selbst kleine Kinder riefen „Russia, Russia“.

Es hatte sich schon lange vor Anpfiff gezeigt, dass dieses Achtelfinale mehr Leute als bisher in den Bann zieht. Eine halbe Stunde vor Spielbeginn sind die Plätze in den Kneipen und Bars mit gutem Blick auf den Fernseher besetzt. Am Strand sind nur noch ein paar Mütter mit ihren Kindern geblieben. Die Partie beginnt aber mit einer herben Enttäuschung. Nach elf Minuten lenkt Sergej Ignaschewitsch den Ball nach einem Freistoß für Spanien ins eigene Tor. Alles scheint nun den erwarteten Verlauf zu nehmen, aber die Zuschauer vor dem Fernseher würdigen jede Aktion der „Sbornaja“. Wenn der Ball nur in die Nähe des spanischen Strafraums kommt, kreischen sie. Der Kommentator unterstützt dies, denn auch seine Stimme hebt sich bei russischer Balleroberung aufgeregt. Kurz vor der Halbzeit flieg ein Ball in den spanischen Strafraum, es wird laut in der Bar, erst recht, als er an Gerard Piques ausgestreckten Arm fliegt. Den Elfmeter verwandelt Artjom Dsjuba souverän.

„Gut fürs Geschäft!“

In der zweiten Hälfte und in der Verlängerung werden Anfeuerungen bei Ballbesitz weniger, was daran liegt, dass Russland kaum mehr aus der eigenen Hälfte herauskommt. Dafür wird jetzt jeder erfolgreiche Abwehrversuch beklatscht. In der 117. Minute fällt das Bild aus. Der Besitzer drückt hektisch auf die Fernbedienung, die Gäste bleiben erstaunlich ruhig. Dann eben den Livestream auf dem Handy schauen. Rechtzeitig zum Elfmeterschießen ist die Störung behoben. Der Mann mit Fahne legt das Handy weg und hält jetzt die Flagge ausgebreitet vor der Brust – bis Aspas schießt.

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