Roubaix – Nach den vielen zermürbenden Monaten hatte sich John Degenkolb genau so einen Ruhetag bei der Tour de France verdient: Als erlöster Etappenchampion, im Kreise seiner kleinen Familie, noch immer überwältigt vom ganz großen Coup von Roubaix. Als die meisten Freudentränen beim ersten deutschen Tagessieger 2018 getrocknet waren, kam der Radprofi aus dem Grinsen kaum noch heraus. Den Vorschlag von Teamchef Steven de Jongh, Degenkolbs Triumph vom Sonntag spontan mit einem Abstecher nach Ibiza zu feiern, beantwortete der 29-Jährige laut lachend: „So könnten wir auf alle Fälle in den Ruhetag gehen.“
Der heiß ersehnte erste Etappensieg bei einer Tour de France nach sechs Jahren Wartezeit mit sechs zweiten Plätzen sorgte bei dem gebürtigen Thüringer für enorme Glücksgefühle. Dass die Party ausgerechnet vor dem ersten Ruhetag der 105. Tour stattfand, war für den Klassikerspezialisten nach der neunten Etappe allerdings nur eine angenehme Randerscheinung. Jeder spürte, wie groß die Last war, die nach dem 156,5 km langen Ritt durch die nordfranzösische Kohle-Region von den Schultern fiel bei Degenkolb, dessen Karriere nach einem bösen Unfall im Januar 2016 am seidenen Faden hing.
„Dieser Sieg ist für alle jene dummen Leute, die meinten, dass John tot ist und nie wieder sein Niveau finden würde“, sagte Degenkolbs ehemaliger Teamkollege Warren Barguil. „Degenkolb und die Kraft des Willens“, schrieb das Tour-Zentralorgan „L’Équipe“ am Montag.
In großer Manier hatte Degenkolb seine Widersacher Greg Van Avermaet im Gelben Trikot und dessen belgischen Landsmann Yves Lampaert auf der Zielgerade von Roubaix in Schach gehalten. Nach seiner Zieldurchfahrt ließ er seinen Emotionen freien Lauf gelassen. „Die Leute haben nicht mehr daran geglaubt, dass ich noch einmal große Rennen gewinnen kann. Es war sehr emotional, die Ziellinie zu überqueren“, so Degenkolb.
Im Frühjahr 2015 hatte der Rad-Profi hier den Höhepunkt seiner Karriere erlebt. Sieg bei Paris-Roubaix, wenige Wochen zuvor bei Mailand-Sanremo: Das hatte vor ihm noch kein Deutscher geschafft. Nur ein Tour-Etappensieg fehlte dem Familienvater. Doch dann folgte der große Rückschlag.
Ein schwerer Trainingsunfall 2016 in Spanien, als eine Autofahrerin in seine Trainingsgruppe raste, beendete beinahe seine Laufbahn; noch heute ist ein Finger fast steif. Außer ein paar Siege bei kleinen Rennen blieben fortan die Erfolge aus. Ein Teamwechsel 2017 zu Trek-Segafredo sollte „Dege“ wieder zurück in die Spur bringen. Doch Verletzungen und Krankheiten warfen ihn wieder zurück. Der Etappensieg war nun wie eine Erlösung.
An die bevorstehende Tortur in den Alpen wollte Degenkolb gestern nicht denken, sondern nur an seine Frau und die zwei Kinder, die er in Annecy in die Arm nehmen kann. „Das ist gerade das Beste, was ich mir auf dieser Welt vorstellen kann“, sagte er. dpa