Debatte um özil

Das ganz große Schweigen

von Redaktion

von marc beyer

München – Jerome Boateng war der Allererste. Auf Twitter hat der Nationalspieler eine kurze, aber innige Botschaft an Mesut Özil geschickt. „Es war mir eine Freude, Abi“, textete er am Montag, als die Debatte über Özils wortgewaltigen Bruch mit dem DFB schon auf Hochtouren lief. „Abi“ ist, wie man seit Montag auch in der deutschen Fußball-Landschaft weiß, das türkische Wort für Bruder. Sehr streng genommen bezieht es sich auf den älteren Bruder. Dabei wird Boateng schon im September 30, Özil erst im Oktober.

Umgangssprachlich formulierte der Bayern-Profi trotzdem korrekt, denn die Anrede ist auch eine Respektsbekundung, ein „Großer Meister“ auf Türkisch. Boateng ging es in diesem Tweet ohne Zweifel um Respekt. Er wollte dem vielstimmigen Chor an Kritikern, Mahnern, Pöblern und Hetzern einige versöhnliche Worte entgegensetzen.

Viele gibt es davon nicht. Nicht mal aus dem Kreis der Nationalspieler, die an der Seite Özils Erfahrungen für die Ewigkeit gemacht haben. Und das ist selbst in dieser Geschichte, die viele kuriose, irritierende und verstörende Facetten hat, besonders bemerkenswert. Im inneren Zirkel des deutschen Spitzenfußballs ist das ganz große Schweigen ausgebrochen.

Das beginnt schon beim Bundestrainer. Joachim Löw ist gerade im Urlaub auf Sardinien und hat sich von dort noch mit keinem Wort zu den Entwicklungen geäußert, die den DFB seit dem Wochenende im Kern erschüttern. Angeblich hat er im Vorfeld nicht mal etwas vom nahenden Rücktritt Özils gewusst, obwohl der einer seiner Lieblingsspieler war und die Berater der beiden kooperieren. Auch um Oliver Bierhoff, den Teammanager, der in einem Interview nach dem WM-Aus die Özil-Debatte noch befeuert hatte, ist es ruhig geworden. Der richtige Zeitpunkt für einen Beitrag, womöglich eine Würdigung zumindest der sportlichen Leistung Özils, ist jetzt schon verpasst. Aber weiter zu schweigen, verschlimmert den desolaten Eindruck bloß noch mehr.

Auf Spielerebene sieht es kaum besser aus. Neben Jerome Boateng meldeten sich am Montag von den WM-Teilnehmern einzig Antonio Rüdiger (mit dem Hashtag #DankeAbi) und Julian Draxler. Der Rest postet in diesen Tagen Bilder vom Golfen oder antwortet auf Fan-Anfragen, Sami Khedira grüßt seinen künftigen Mitspieler Cristiano Ronaldo, Marco Reus präsentierte am Montag einen neuen Fußballschuh. Das Thema dieses Fußballsommers aber, die Özil-Saga von den unseligen Erdogan-Fotos über die Rassismus-Debatte bis hin zum Rücktritt aus der Nationalmannschaft und den zornigen Vorwürfen gegen DFB-Präsident Grindel spielt keine Rolle. Als stehe sie auf einem geheimen Index. Oder als fühlten sich die Nationalspieler bei diesem Thema nicht zuständig.

Özil und Ilkay Gündogan haben mit ihrem fatalen PR-Termin im Mai den Kollegen eine Last aufgebürdet, die sie während der gesamten WM nicht mehr loswurden. Im Gegenteil, Özils hartnäckiges Schweigen brachte jeden Versuch der Deeskalation zum Scheitern. Aber kann das allein ein Grund sein, warum von den Mitspielern niemand das Wort ergriff und sich vor Özil stellte, als der immer stärker vom rechten Flügel angegriffen wurde? Und dass nun fast die komplette Mannschaft den Kopf einzieht, während um einen aus ihrer Mitte wild debattiert wird?

Schweigen ist insgesamt ein beliebtes Stilmittel in diesem Kontext, obwohl sich diese Taktik in den vergangenen Wochen immer wieder als untauglich erwiesen hat. Eine Pressekonferenz mit Reinhard Grindel ist noch nicht absehbar, dabei gäbe es so viele Fragen an den Präsidenten, die mit einer Pressemitteilung nicht beantwortet sind. Man sollte meinen, der DFB hätte im Laufe der Jahre verstanden, dass Verschlossenheit der falsche Weg ist. Aber wenn es darum geht, aus verheerenden Entwicklungen die richtigen Schlüsse zu ziehen, sind der Verband und sein störrischer Ex-Spieler Mesut Özil nur in einer Hinsicht hilfreich. Als abschreckende Beispiele.

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