Gib mir mein Herz zurück

von Redaktion

Wenn der Fußball ein Zukunftslaboratorium ist, droht bald der Abpfiff – es wird Zeit, wieder etwas zu fühlen

VON ANDREAS WERNER

München – Es hat nicht mal wehgetan. Eigentlich müsste es ein tierischer Schmerz sein, wenn einem das Herz herausgerissen wird . . . aber als da vor gut zwei Monaten im fernen Russland plötzlich der Ball im Netz der deutschen Nationalmannschaft zappelte und all die namenlosen Südkoreaner ihr 2:0 bejubelten, war das eigenartigerweise sogar befreiend. Eine Selbstreinigung. Sicher, hätte man sich ersparen wollen. Lieber nochmal alle wegputzen, gerne nochmal 7:1, und dann den WM-Pokal in die Höhe, alle zusammen, oder eben: #zsammn. Aber da geht es schon los: Irgendwie ist man nicht mehr zusammen, spätestens, seitdem die da beim DFB #zsammn sein wollten. Da ging das Herz hops. Deshalb tat’s auch nicht so weh.

Wenn an diesem Wochenende die Bundesliga beginnt, ist da immer noch eine gewisse Leere, Taubheit. Für die gesamte deutsche Balltreterszene ergibt sich ab diesem Sommer ein Auftrag, klarer denn je: Gewinnt die Fans zurück! Oder, Drama, Baby, Drama: Hängt Euch gefälligst rein, dass sie Euch nicht bald ganz davonlaufen! Es geht ja nicht um dieses eine 0:2 gegen die namenlosen Südkoreaner, es geht nicht um eine kolossal in den Sand gesetzte WM. Sondern ums große Ganze.

Der Philosoph Wolfram Eilenberger ist Fan des FC Bayern und hat selbst die Trainer-Lizenz. Er weiß wohl, wovon er spricht. Neulich sagte er in einem Interview, Fußball habe eine zutiefst romantische Basis, auf die alles zurückgeht. Der Moment, wenn man sich für einen Verein entscheidet, sei, als würde man sich verlieben: Man will diesen einen Verein, keinen anderen. Eilenberger halte nicht viel von der Metapher, Fußball sei ein Spiegel der Gesellschaft, sagte er: „Fußball ist mehr – eine Art Zukunftslaboratorium. Er ist eigentlich seiner Zeit voraus, das ist ein Spiegel nicht. Man kann in ihm zukünftige Entwicklungen der Gesellschaft sehen.“

Oje. Na, dann: Abpfiff?

Fußball war mal das leichteste Spiel der Welt, und auch das Drumherum stets simpel. Und heute? Mesut Özil und Recep Tayyip Erdogan haben Deutschland einmal durchgeschüttelt, so gründlich, wie es nie hätte sein dürfen. Bis jetzt wartet die Geschichte auf einen Schlussstrich, einen echten, der keine Debatten mehr offen lässt, aber wer kann den schon ziehen? DFB-Präsident Reinhard Grindel hat inzwischen nicht nur mehrfach angesetzt, sondern auch noch an unterschiedlichen Bezugspunkten und mit verschiedenen Farben. Eilenberger fühlt sich beim Fußball hin und wieder an eine Episode von Franz Kafka erinnert, wie der mit einem Freund vor einem Bild von Picasso steht. „Dann sagt der Freund: ,Das sieht doch gar nicht aus wie unsere Wirklichkeit.’ Und Kafka antwortet: ,Nein, aber das sieht aus wie unsere Zukunft.’ Das denke ich oft über Fußball. Wenn ich den Fußball und die Entwicklungen in diesem Bereich so sehe, dann meine ich, ein bisschen in die Zukunft schauen zu können.“

Wenn er Recht behält:

Abpfiff, Schiri, pfeif ab!

Es ist ja nicht nur das dämliche #zsammn, das entzweit hat. Es sind die Millionenunsummen sowie der Mumpitz, der unter den Spielern zunehmend grassiert und „Selbstvermarktung“ heißt. Geht es so weiter, kicken bald keine Fußballer mehr, nicht einmal mehr Stars oder Top-Stars, sondern: Marken. Anfang Juli ließ Loris Karius auf Instagram ein Video von sich inszenieren, derart selbstdarstellerisch, dass eine Steigerung für Fremdschämen hätte erfunden werden müssen – hätte er es nicht nach einer Nacht umgehend gelöscht, da der Shitstorm so gewaltig war. Zur Erinnerung: Karius war der Keeper, der dem FC Liverpool im Mai mit beispiellosen Patzern das Champions League-Finale sorgfältig vermasselt hatte.

Bei der WM 2014 gab es die Geschichte von Mario Balotelli, auch er habe wie ganz normale Fans ein Panini-Album. Allerdings mit dem Unterschied, dass er auf der Doppelseite mit Italiens Nationalelf auf alle Bilder seinen eigenen Kopf geklebt haben soll. Ob die Geschichte nun wahr ist oder nicht (absurd ist sie in jedem Fall) – im Vergleich zu den Blüten heutzutage wirkt sie fast putzig. Zumal die Entwicklung ja auch nicht vor den sonst eher bodenständigen Deutschen Halt macht: Pünktlich zum Start der Bundesliga wartete Jerome Boateng mit der Nachricht auf, er werde bald ein eigenes Lifestyle-Magazin herausbringen. In „Boa“ sollen stehen: Geschichten über Sport, Musik, Mode – und aus „meiner Welt“, wie der Bayern-Profi sagte. Um die zu erzählen, will er selbst Interviews führen. Nebenbei droht ihm gerade der Verlust seines Stammplatzes, sein Vorstand Karl-Heinz Rummenigge beklagte schon vor einiger Zeit, Boateng müsse schleunigst wieder „back to earth“.

Dabei lautet Frage: Ist es eigentlich noch derselbe Planet, auf dem Spieler und Fans leben? Nun, der Ball rollt wieder, es ist Zeit, wieder was zu fühlen, und in jedem Ende ruht auch ein Anfang. Im Lied „Flugzeuge im Bauch“ sang Herbert Grönemeyer einst: „Gib mir mein Herz zurück“. 1984 war das, in dem Jahr verhökerte Bayern Rummenigge zu Inter Mailand. Mann, das hat damals echt weh getan.

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